Hamburg. Was jetzt gelb blüht und aussieht wie Löwenzahn, ist der Huflattich. Aber beide wurden schon in der Antike als Heilkräuter geschätzt.

Bis zu meinem 14. Lebensjahr hielt ich Huflattich für eine verfrühte Form der Kuhblume, wie mein Großvater den verhassten Löwenzahn nannte. Ich sagte lieber Pusteblume. Klang irgendwie niedlicher. Ich musste sie aber trotzdem immer wieder ausstechen. Eine der ersten gärtnerischen Fertigkeiten, die ich erlernte. Als sein Gartenhelfer, im Frühjahr bei der Bestellung der Gemüsebeete. Als Erstes hatte ich übrigens das Einstreuen von Mist in die Furchen gelernt, wenn er die Beetflächen mit dem Spaten umgrub. „Der Bauer hat den Pflug, der Gärtner den Spaten“, erklärte er mir. Seitdem weiß auch auch, warum der Spaten der „Pflug des kleinen Mannes“ heißt.

„Unkraut frisst den Erbsen und Möhren den Mist weg“, erklärte er mir, „dass muss raus.“ Das Wort Wildkräuter, wie es heute ökologisch korrekt heißt, gab es damals noch nicht. Und bei Unkraut verstand mein Opa keinen Spaß. Vielleicht störte ihn auch nur dessen Anblick in seinen akkurat angelegten Beeten. Dabei war mein Großvater eigentlich ein lustiger Mensch. Er hieß eigentlich Ferdinand, aber alle nannten ihn nur „Nante“. Weil er gern in geselliger Rund das Lied vom „Eckensteher Nante“ sang. Der war ein Berliner Dienstmann und Original gewesen, eine Figur aus der ersten deutschen Revolution von 1848.

Wo hatte Nante das Lied gelernt? Meine Großmutter deutete mal geheimnisvoll an, er sei nach dem Ersten Weltkrieg in einem Korps gewesen. Im sogenannten Reichsbanner oder in einem Freikorps? Der von der SPD dominierte Wehrverband war für die Verteidigung der Weimarer Republik gegründet worden – gegen deren Feinde, die reaktionären Freikorps, die gegen die Weimarer Republik geputscht und Rosa Luxemburg ermordet hatten.

Der erste Frühlingsbote

Opa Nante redete über diese Zeit nicht. Einmal erwähnte er, dass er in den 20er-Jahren in der Fabrik in der münsterländischen Kleinstadt, in der auch ich groß geworden bin, fristlos gekündigt worden war. Von einem Fabrikdirektor, dessen Enkel mein Freund und Klassenkamerad auf dem örtlichen Gymnasium war. Nante hatte am 1. Mai, dem Tag der Arbeit, demonstriert. Tempora mutantur. Die Zeiten änderten sich auch dort. Lernten wir aber auch fürs Leben und nicht für die Schule? „Non scholae, sed vitae discimus“, wie es hieß?

Womöglich. Im Frühjahr, auf einem Wandertag dieses Gymnasiums, zeigte mein Biologie-Lehrer auf eine gelbe Blume. „Pusteblume“, sagte ich, Nante sei dank, wie aus der Pistole geschossen. War leider falsch. War zwar wie der Gewöhnliche Löwenzahn eine Pflanze, die nach der Blüte ihre Samen über den Wind verbreitet, aber eben ein Huflattich. Wie peinlich. Dafür brannte sich der Unterschied in meinem Gedächtnis unauslöschlich ein – weswegen ich auch meiner Frau Anke den Unterschied erklären konnte, als sie bei einem Spaziergang Ende Februar in unserem kleinen Mühlenpark im Wendland sagte: „Da blüht schon ein Löwenzahn.“

Es war, natürlich, ein Huflattich. Tussilago farfara blüht schon im Februar. Neben dem Schneeglöckchen (Galanthus) der erste Frühlingsbote. Löwenzahn und Huflattich gehören zur Familie der Korbblütler. Die Blätter des Lattich erscheinen erst später – anders als beim Löwenzahn, wo erst die Rosette mit den gezackten, länglichen Blättern erscheint, aus denen dann im April und Mai der Stängel mit der Blüte wächst. Beide verbreiten über den Wind ihre Samen an kleinen, weißen Fallschirmchen – gern auch kilometerweit.

Wildkraut oder Unkraut?

Kinder lieben es, die Samen der weißlichen Blütenkugel in die Luft zu pusten. Bis zu 300 Stück. Pro Blume. Gärtner sind weniger begeistert. Und Dichter? Der Komiker Heinz Erhardt (1909–1979) reimte:

„Und sitz ich auf der Veranda

Und verzehre meine Suppe

Und entdecke in der Suppe

Zwei Versprengte dieser Truppe ...“

Wildkraut oder Unkraut? Eine Frage der Betrachtungsweise. Auf jeden Fall sind beide Überlebenskünstler und nur schwer aus dem Garten zu entfernen. Hauptgrund sind die starken Wurzeln, die beim Löwenzahn bis zu zwei Meter tief gehen können – und nur entsprechend schwer zu bekämpfen sind. Wer auf die chemische Keule verzichten will, dem hilft nur Ausstechen und Ausstechen. Irgendwann ermüdet auch die stärkste Wurzel.

Karl Günther Barth
Karl Günther Barth © HA | Klaus Bodig

Auf jeden Fall sind beide auch uralte Heilkräuter. Schon im antiken Rom schrieb der berühmte Plinius über die befreiende, weil schleimlösende Wirkung von Huflattich bei chronischem Husten. In der Kosmetik gilt Huflattich unter anderem als Mittel gegen fettige Haare und Schuppen.

Löwenzahn-Extrakt soll Friedrich dem Großen (1712–1786) von einem Nierenleiden befreit haben. Damals hatte der Löwenzahn bezeichnender Weise den botanischen Namen Herba urinaria und soll auch bei ständigem Harndrang und vorzeitigem Samenerguss geholfen haben.

Bis zum nächsten Wochenende, herzlichst Ihr Karl Günther Barth