Hamburg. Ob man Singvögel wegen des Mangels an Insekten ganzjährig füttern soll, ist umstritten. Forscher beobachten Veränderungen.

Meine Frau Anke und ich saßen in der Küche unserer Freundin Cornelia, die gerade umgezogen war. Als die Freundin begeistert von der neuen Wohnung erzählte, hörte Anke nur mit einem Ohr zu. Einen Strauch vor dem Küchenfenster ließ sie nicht aus den Augen. Ein Meisenknödel hing da im Geäst, es war eine Art Sommertag im April. Und tatsächlich, ein Rotkehlchen pickte daran herum und war, zack, wieder weg. Beim Abschied fragte Anke unsere Freundin beiläufig, ob sie die Restknödel vom Winter an die Vögel verfüttere. Nö, sagte die, sie mache das ganzjährig. Es gebe kaum noch Insekten. Das wisse doch jeder.

Ich ahnte, was kommen würde. Wir waren kaum wieder in unserer kleinen Mühle im Wendland, da fragte meine Frau mich, ob ich nicht auch noch Rest-Vogelfutter aus dem Winter hätte. Ich hätte ihr doch vor Kurzem erklärt, wie dramatisch die Zahl der Insekten zurückgegangen sei. Um 70 Prozent, von irgendwas müssten die Piepmätze doch leben. Stimmt ja, im Prinzip. Auch wenn ich Anke im Verdacht habe, dass sie es auch nur zu niedlich findet, die Vögel beim Fressen aus dem Küchenfenster zu beobachten. Ganzjährig, nicht nur im Winter.

Causa ist noch recht übersichtlich

Die Sache ist zwiespältig. Die Puristen unter den Naturschützern sind ja sogar noch gegen das Füttern im Winter. Nicht artgerecht, argumentieren sie – und führen Studien ins Feld, die das belegen sollen. Etwa dass Parasiten an den Futterstellen die Vögel schwächten, sodass sie später nicht einmal die eigene Brut aufziehen können. Beim Bund Naturschutz ist man da milder, gibt Tipps für richtiges Füttern und veröffentlicht Bastelpläne für Vogelhäuschen. Unbestritten ist, dass die Vögel mit Fütterung besser durch den Winter kommen. Eindeutig aber ist der Nabu bei seiner Ablehnung einer ganzjährigen Rundum-Versorgung unserer gefiederten Freunde. Im Prinzip mache man damit die Natur zu einer Art Freiluftzoo. Was ja kaum artgerecht sein könne.

Nun bin ich kein Ornithologe. Die Forschung ist, soweit ich das feststellen konnte, in der Causa noch recht übersichtlich. Bei den Briten, die ja als Vögel-verrückt gelten, gibt es die ganzjährige Fütterung schon seit Jahrzehnten. Negative Folgen sind offenbar nicht bekannt – auch wenn sich dort die Zahl der Vögel dadurch nicht sonderlich erhöht hat. Bei den Mönchsgrasmücken, einem in ganz Deutschland verbreiteten schwarz-grauen Singvogel, hat sich offenbar bereits herumgesprochen, dass es in England immer Körner und Rosinen satt gibt. Statt nach Spanien, ihrem ursprünglichen Winterquartier, fliegen sie lieber ins Britannische. Ist ja auch kürzer – und man muss nicht über die Alpen. Forscher glauben festgestellt zu haben, dass das die Form der Flügel der hübschen Sänger schon zu verändern beginnt. Sie werden kürzer und runder, weil sie nicht mehr Langstrecke fliegen müssen, sondern damit besser durch Gehölze kurven können.

Gut gefütterte Blaumeisen

Wie Füttern die Vogelwelt verändern könnte, haben Zoologen der Universität Basel herausgefunden. Gut gefütterte Blaumeisen beginnen durchschnittlich zehn Minuten später zu singen als ihre Artgenossen. Etwa im Frühjahr, um Weibchen anzulocken und ihr Revier gegen männliche Eindringlinge zu verteidigen. Aber auch, um das Fremdgehen der eigenen Vogelfrau zu verhindern – und damit die Gefahr, später bei der Aufzucht fremder Brut helfen zu müssen. Vögel sind halt auch nur Menschen. Wer etwa eine Diät macht, wird mit Hungergefühl im Magen auch früher wach. Bis zu zwei Stunden!

Karl Günther Barth
Karl Günther Barth © HA | Klaus Bodig

Aber Vögel füttern, damit wir Menschen zehn Minuten länger schlafen können? Das kann es nicht sein. Peter Berthold (79), ein weltweit renommierter Forscher und so etwas wie ein Urgestein der deutschen Ornithologie, hält es sogar für eine gottverdammte Pflicht, Vögel ganzjährig zu füttern – auch angesichts des dramatischen Rückgangs von Insekten, dem Hauptnahrungsmittel der Vögel. Satte Tiere, so sein Credo, brüteten früher, legten mehr Eier, und die Wahrscheinlichkeit, das ihre Jungen überleben, sei größer. Außerdem könnten satte und mithin kräftige Meisen-Männchen ihren Rivalen ganz einfach was auf die Mütze geben.

Ich habe noch einen Rest Vogelfutter vom Winter gefunden – und mir die Mühe gemacht, von unserer Küche aus ein Meisenpärchen zu beobachten, das gerade in einem Nistkasten brütet. Bevor der Piepmatz – ich glaube, es ist das Männchen – losfliegt, stärkt er sich kurz am nahen Meisenknödel. Später kommt er zum Beispiel mit einem Wurm zum Nistplatz zurück. Ist vielleicht kein Beweis für die Thesen von Professor Berthold. Aber es beruhigt mein Gewissen.

Bis zum nächsten Wochenende, herzlichst Ihr Karl Günther Barth