Hamburg. Für die Kartoffel ist es ein schlechtes Jahr. Auch der dümmste Bauer wird diesmal kaum noch dicke Knollen ernten.

„Oh“, sagte meine Frau Anke und war sichtlich erschrocken. Ich hatte was von Leitkultur gemurmelt auf ihre Frage nach dem Thema für den „Brief aus der Mühle“. Sie befürchtete Ärger – wie nach der Kolumne über die Nacktschnecken und die Frage, wie man die schleimigen Kriecher ethisch-politisch korrekt vom Leben zum Tod befördert.

Das Wort Leitkultur, 1998 vom Politologen Bassam Tibi in die Integrationsdebatte eingeführt, hatte der liberale „Zeit“-Herausgeber Theo Sommer damals noch verteidigt: „Integration bedeutet zwangsläufig ein gutes Stück Assimilation an die deutsche Leitkultur und deren Kernwerte.“

Bei uns im Wendland steht es gerade gar nicht gut für die Leitkultur. Sagen mir jedenfalls meine Nachbarn, die Bauern – und sie meinen damit nicht den politischen Kampfbegriff, der für Liberale und Linke fast so was wie ein Unwort des Jahres ist. Das Wort stammt ursprünglich aus der Agrarwirtschaft und meint diejenige Pflanze, die in einer Region am meisten angebaut wird. Das ist an den Hängen von Mosel und Rhein die Weinrebe, in der Magdeburger Börde die Zuckerrübe und bei uns wie auch in der Lüneburger Heide die Kartoffel.

Man ahnt es: Das Wetter ist schuld. Normalerweise gilt die alte Bauernregel: „Je mehr Regen, desto mehr Ertrag“, wie mein Nachbar Wilhelm sagt. Aber diesmal war alles etwas anders. Wegen Nässe und Frost konnten die Kartoffeln erst später als sonst gepflanzt werden. Dann verhinderte mangelnde Wärme ein schnelles Keimen. Kaum hatte das Kraut zu sprießen begonnen, drohte Phytophthora infestans. Das ist ein gefürchteter Pilz, den wir Gärtner als Mehltau kennen.

Der Pilz war um 1840 aus Nordamerika nach Europa eingeschleppt worden und vernichtete dort ganze Ernten. Am schlimmsten traf es Irland, wo Solanum tuberosum wie in Deutschland zum Grundnahrungsmittel geworden war. Eine Million Iren starben an der Hungersnot. Damals wanderten Millionen Menschen in die USA aus. Es dauerte, bis resistente Sorten gezüchtet waren und die chemische Industrie Gegengifte entwickelt hatte. Doch als die Krautfäule, welche die Erdäpfel zu einem ungenießbaren Matsch machte, besiegt schien, wurden neue Erreger eingeschleppt.

Dieses Jahr, so scheint es einem Laien wie mir, gerieten die Landwirte in den umliegenden Dörfern in einen Teufelskreis. Sie sparten viel Geld bei der sonst üblichen Beregnung der Felder, was je nach Hofgröße bis zu 30.000 Euro kosten kann. Dafür mussten sie dauernd gegen die Krautfäule spritzen. Oft vergebens, wenn ein Regenschauer die Wirkung wegspülte. Gleichzeitig ließen die Regenfälle den Dünger zügig an den Wurzeln vorbei ins tiefere Erdreich sickern. Die Folge, kurz zusammengefasst: Es gibt weniger und kleinere Kartoffeln. Vor allem weniger an den vom Handel geforderten Durchschnittsgrößen von 35 bis 65 Millimeter, welche die deutsche Hausfrau offenbar so liebt. Größere bringen auch gutes Geld – in den Steakhäusern werden sie zu Folienkartoffeln verarbeitet. Der Bauer kriegt allerdings nicht viel ab von dem Geldsegen: dieses Jahr etwa zehn Euro für den Doppelzentner. Das sind 100 Kilo, macht für ihn zehn Cent pro Kilo. Im Supermarkt zahlen wir im Schnitt knapp das Zehnfache.

Nicht nur die Kartoffelernte ist sozusagen schwer verregnet. Probleme gab es auch beim Getreide. Den Spitzenpreis von etwa 15 Euro pro Doppelzentner erzielt der Landwirt bei Genossenschaften und Händlern, wenn das Korn einen optimalen Feuchtigkeitsgrad von 14 Prozent hat. Der ist natürlich schwer zu erreichen, wenn es immer mal wieder regnet wie in diesem Jahr. Für jedes Prozent mehr gibt es Abschläge, wenn das Getreide für die Lagerung erst noch getrocknet werden muss. Das macht schnell 1,50 bis drei Euro aus – und der Gewinn wird immer schmaler. Auf manchen Feldern ist der Boden so nass, dass Mähdrescher im Schlamm versinken. Sie müssen auf extra breite und entsprechend teure Doppelreifen umgerüstet werden, um das zu verhindern.

Meine Bauern in der Nachbarschaft haben dieses Trocknungsrisiko ein wenig minimiert. Als sie sich vor einigen Jahren für den Bau einer Biogas-Anlage zusammentaten, errichteten sie auch gleich eine Trocknungsanlage. Sie trocknen da quasi zum Selbstkostenpreis mit der warmen Abluft. Ansonsten geht diese extrem preiswert in die Heizungen der Nachbarschaft. Das Freibad wird gratis geheizt. Das Wasser hat immer 28 Grad – Mittelmeer-Temperaturen im Wendland,

Bis zum nächsten Wochenende, herzlichst Ihr Karl Günther Barth