Auch die von Blättern geschützten Winterknospen der Kletterhortensie haben Messmembrane für das Frühlingserwachen. Sie messen den Lichteinfall

Die letzten Blätter sind gefallen, Bäume und Sträucher kahl. Die Natur im Winterschlaf? Alles Unsinn, sagt der tschechische Dichter und Philosoph Karel Capek (1890-1938). Die Natur ist schon weiter. Wer genau hinschaut, sieht, dass sich längst neue Knospen gebildet haben, klein wie Sprengkapseln, aus denen später der Frühling explodiert. Aber während die Menschen schon davon träumen, entfernte Galaxien zu erforschen, rätseln Wissenschaftler noch immer über die Tricks, wie Pflanzen erkennen, wann für sie Frühling ist.

Peter Wohlleben, Deutschlands berühmtester Förster und Bestsellerautor („Das geheime Leben der Bäume“) glaubt, dass Bäume zählen können. Erst wenn eine bestimmte Zahl von warmen Tagen überschritten ist, stufen sie die Situation als Frühling ein und trauen sich, Blüten und Blätter zu bilden. Zumindest gelte dies für Obstbäume und sei auch wissenschaftlich bewiesen. Aber Bäume haben offenbar nicht nur einen eingebauten Taschenrechner mit angeschlossenem Thermometer, sie haben noch ganz andere Tricks auf Lager. Ganz vorsichtige trauen sich erst, wenn die Tage länger geworden sind. Dazu müssen sie über eine Art Lichtmesser verfügen. Eichen und Buchen treiben erst aus, wenn es mindestens 13 Stunden am Tag hell ist. Genau erforscht ist das noch nicht, aber im Wissensteil der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung am Sonntag“ (FAS) habe ich gelesen, dass sich Lichtmesser in den feinen, fast durchsichtigen Blättern der Knospen befinden, die im Winter von dicken Deckblättern vor dem Frost geschützt werden. Wie das Ergebnis der Lichtmessung in Wachstumssignale übermittelt wird, ist noch nicht genau erforscht – ob über Hormone oder über biochemische Prozesse ist von Pflanze zu Pflanze unterschiedlich.

„Der Wohlleben hat das in seinem Buch auch vermutet“, wollte ich noch meiner Frau Anke sagen. Doch die war schon weg und kam mit zwei dicken Knospen einer Kletterhortensie zurück, die sich seit acht Jahren direkt neben der Küchentür unserer kleinen Mühle im Wendland ordentlich entwickelt hat und seit zwei Jahren auch zuverlässig blüht. Ich kam mir vor wie im Biologieunterricht in der Schulzeit. Meine Frau, die es immer ganz genau wissen will, hatte eine der Knospen mit einem scharfen Messer zerteilt und hielt mit einer Pinzette ein Blättchen gegen die Lampe des Küchentisches. Hauchdünn und durchscheinend wie eine feine Membrane. So sieht also ein Lichtmesser der Natur aus!

Toll. Seitdem betrachte ich die Kletterhortensie mit ganz anderen Augen. Gepflanzt hatte ich sie eigentlich als Alternative zu Efeu, um die Wand der Mühle zu begrünen. Hydrangea petiolaris, die ursprünglich aus Japan und Korea stammt, ist wie der Efeu ein sogenannter Selbstklimmer. Die Haftwurzeln dringen nicht so tief in Fugen oder Putz ein wie beim Efeu. Wie der liebt die Kletterhortensie einen halbschattigen bis schattigen Platz und kühle, feuchte Lagen. Sie kommt auch in der Sonne zurecht. Allerdings nicht direkt vor der Südseite einer Mauer.

Anfangs ist diese Hortensie sehr schwachwüchsig und braucht drei bis fünf Jahre, bis sie in die Gänge kommt. Nur fünf bis zehn Zentimeter pro Jahr wächst sie zu Beginn. Erst wenn sie fes­ten Kontakt an einer Mauer oder einem Baum gefunden hat, kann es zu Jahrestrieben von 20 bis 50 Zentimetern kommen. Im Alter kann die Hortensie bis zu 15 Meter in die Höhe klettern.

Im vergangenen Sommer waren Anke und ich bei meinem alten Freund und früheren „Stern“-Kollegen Heiko Gebhardt eingeladen, der bei Dannenberg seit vielen Jahren einen wunderbaren alten Resthof bewohnt. Von seiner Terrasse blickt man auf die alte Scheune eines Nachbarn, die über und über von jahrzehntealten Kletterhortensien überwuchert ist. Es war Anfang Juli und die alte Scheune ein einziges Blütenmeer. Die Kletterhortensie bildet nämlich etwa 25 Zentimeter große Rispen mit kleinen weißen Blüten, die auch noch umwerfend duften. Zum Niederknien!

So weit ist unser Prachtexemplar noch lange nicht. Und auch nicht so hoch. Drei Triebe lasse ich die Mühlenwand hoch wachsen. In diesem Jahr habe ich sie erstmals in knapp zwei Metern Höhe gekappt, damit sie sich schön verzweigen und dicht werden. Das Gleiche mache ich mit weiteren Trieben, die ich strauchig wachsen lasse – eindeutig ein Vorteil gegenüber dem Efeu. Den Nachteil, dass sie nämlich nicht immergrün ist, hat die Garten-Industrie jetzt mit zwei Neuzüchtungen ausgeglichen. „Semiola“ hat im Frühjahr kupferrote Austriebe, die Blätter von „Silver Lining“ haben einen weißen Rand. Sie eignet sich auch für die Bepflanzung von Kübeln auf Balkon und Terrasse. Angeblich ist sie sogar winterhart bis minus 30 Grad.

Bis zum nächsten Wochenende, herzlichst Ihr Karl Günther Barth.