Der Zeitgeist holt vergessene Genüsse zurück in die Küche. Die Pastinake gehört dazu. Vorsicht: Wildwuchs vom Bahndamm könnte streng schmecken

Der Zeitgeist ist in die Küche unserer kleinen Mühle eingezogen. Mehr oder weniger per Zufall. „Wissen Sie, was das ist?“, fragte ich eine Mitarbeiterin eines Supermarktes, die gerade in der Obst- und Gemüseabteilung Bananen einräumte. Ich hielt ein Bund Suppengrün in der Hand. Für eine kräftige Hühnerbrühe. Meine Frau Anke war erkältet und ich wollte ihr was Gutes tun.

Man kennt das ja – Porree, Mohrrübe, Sellerie und Petersilie in einem Bund, zusammengehalten von einem kleinen roten Gummiband. Ich deutete auf eine kleine, längliche, blass-weiße Frucht, die aussah wie eine Rübe. „Nee“, antwortete die Verkäuferin. Ich hol’ mal den Geschäftsführer.“ Der wusste auch nicht gleich Bescheid und blätterte in einem Stoß von Lieferscheinen. „Pastinake“, sagte er dann. „Das ist eine Pastinake. Kennen Sie die etwa nicht?“

Hatte ich noch nie gehört. Aber unsere Nachbarin, eine alte Bäuerin, erkannte die seltsame Rübe gleich. Dass es die wieder gebe, staunte sie, ihre Oma habe sie früher geraspelt und Eintöpfe damit gewürzt. An einen Stampf mit Kartoffeln konnte sie sich auch noch erinnern. Dann fand sie in einem alten Kochbuch ihrer Großmutter noch einige Zettel mit handgeschriebenen Zetteln. Mit echt altmodischen Schriftzeichen, einer Art Sütterlin. Die habe ich als Deutsche Schrift noch Mitte der
50er-Jahre in der Volksschule, die heute Grundschule heißt, gelernt, neben der modernen Schreibschrift. Schönschreiben hieß das Fach damals – und ist natürlich längst abgeschafft. Wir lernten „Schönschreiben“ zugleich mit der Rechtschreibung. Heute gilt fehlerfreies Schreiben als ziemlich überflüssig, als eine Art Sekundärtugend. Also nicht so wichtig.

Aber zurück zur Pastinake. Es war natürlich kein Zufall, dass ich schon vor einigen Jahren ausgerechnet in einem Supermarkt im Wendland eine Pastinake mit dem Suppengrün bekam. Denn Pastinaca sativa, die als Wurzelgemüse bei uns so gut wie verschwunden war, erlebt seit den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts durch den ökologischen Landbau eine Renaissance – und Bio-Bauern gibt es bei uns reichlich. Mittlerweile ist die vielseitige Wurzel so etwas wie ein „Role Model“ für zeitgeistiges Gemüse, wie ein Gastro-Journalist in der „Süddeutschen Zeitung“ schrieb.

Dabei war die Pastinake seit der Jungsteinzeit in ganz Mitteleuropa ein Grundnahrungsmittel. Gut möglich, dass sich Hermann der Cherusker am Vorabend der Schlacht im Teutoburger Wald mit einem Stampf aus der wegen ihres Zucker- und Stärkegehaltes so nahrhaften Wurzel noch einmal stärkte, um dann die römischen Legionen zu vernichten. Bis ins 18. Jahrhundert galt sie als Grundnahrungsmittel – geschmort oder gedünstet, als Eintopf oder frisches Gemüse. Mit dem Siegeszug der Kartoffel änderte sich das. In England überlebte sie als würziges Püree, beliebt als Beilage zu Wildgerichten. Im Zweiten Weltkrieg rösteten die Briten Pastinaken mit Nelken als Bananen-Ersatz.

Gesät wird das Wintergemüse ab März, geerntet ab September/Oktober. Das beste Aroma gibt es nach dem ersten Frost – wie bei Rosen- oder Grünkohl. Obwohl Pastinaken fast so süßlich schmecken wie eine Karotte, rühmen die Anhänger der regionalen Küche die erdige Note, mit Fenchel- und Muskataromen. Die mit Mineralien versehene, aber weitgehend nitratfreie Wurzel wächst überall, sogar an Bahndämmen und auf Verkehrsinseln. Selbstversorger und Wildkrautsammler sollten wissen, dass Pastinaken vom Straßenrand dann leicht eine andere Note bekommen – neben Fenchel auch von Hunde-Pipi.

Fast alle Spitzenköche haben mittlerweile „irgendwas mit Pastinake“ im Rezeptbuch. Als Mousse, geraspelt über Salaten, als feines Süppchen oder als Pommes-Ersatz. Ich hoffe für den weiteren Erfolg der kultigen Wurzel, dass die Gourmet-Hipster in den Szenelokalen sich nicht vor lauter politischer Korrektheit am alten Namen der Pastinake stören – sie hieß mal Germanenwurz.

Ich selber nehme die Pastinake statt Möhren gerne für Suppen. Braten-Soßen werden würziger und sämiger, wenn man fein geraspelte Pastinake mitschmoren lässt. Mein Favorit ist ein würziges Püree. Für vier Personen braucht man ein knappes Kilo Pastinaken und etwa ein Pfund Kartoffeln. Beide schälen und in grobe Stücke schneiden. Richtig dicke Wurzeln besser vierteln und die leicht bittere holzige Mitte entfernen. 15 Minuten in Salzwasser kochen und abschrecken. Milch und Sahne (jeweils gut 100 ml) sowie etwas Butter dazugeben und grob zerstampfen. Mit Salz und Muskat abschmecken. Schmeckt nicht nur zu Wild oder Braten, sondern auch mit Brathering. Für die schnelle Küche auch aus der Dose.

Bis zum nächsten Wochenende, herzlichst Ihr Karl Günther Barth