Eigentlich kann man Zwillinge schlecht auseinanderhalten, jedenfalls wenn sie eineiig sind. Bei Bäumen ist das anders.

Bäume sterben aufrecht – und langsam. Einer der Zugänge zu unserem kleinen Mühlenpark im Wendland wird eingerahmt von zwei knapp einem Meter hohen Findlingen und zwei Säuleneichen. Als meine Frau Anke und ich die beiden Bäume, die mit lateinischem Namen Quercus robur „Fastigiata“ heißen, vor gut 15 Jahren pflanzten, sollten sie zusammen mit den aufrecht gestellten Steinen ein markantes Entree zu unserem Grundstück bilden.

Daraus wird wohl nichts. Leider. Denn während der eine Baum zu einem wahren Prachtexemplar von schätzungsweise acht bis neun Meter Höhe aufgeschossen ist, konnte der andere von Beginn an nicht mithalten. Ich tippte zunächst auf einen genetischen Defekt. Denn anders als bei seinem vermeintlichen Zwilling wuchsen die Triebe nicht straff aufrecht, sondern irgendwie seltsam verdreht. Manche Zweige hingen sogar über, wie man das sonst nur bei Trauerformen wie Birken und Weiden sieht. Andere ragten fast waagerecht nach außen.

Ein genetischer Defekt? Man hört ja so viel. Denn die Säuleneiche als solche ist das Ergebnis einer Mutation, wie sie in der Natur immer mal wieder vorkommt. Ich hatte mich schlau gemacht und nachgeforscht. Die Mutter aller Fastigiatas steht im hessischen Harreshausen und wurde dort um 1740 in einem Park der Grafen von Hanau entdeckt. Laut Fachliteratur stammen sämtliche in Zentral- und Mitteleuropa kultivierten Säuleneichen von diesem einen Baum ab.

Damals eine botanische Sensation. Eine neue Form der Eiche – jenes Baumes, der schon bei Griechen, Römern und Germanen eine mystische Bedeutung hatte. Bei unseren Vorfahren war sie Thor, dem mächtigen Gott und Herrn der Blitze, geweiht. Um dem Stamm der heidnischen Chatten die Ohnmacht der alten Götter zu demons­trieren, fällte der Missionar Bonifatius der Legende nach im Jahr 723 nahe dem hessischen Fritzlar eine heilige Eiche und ließ am Ort des vermeintlichen Frevels eine Kapelle errichten. Uns ist Bischof Bonifatius heute besser als Schutzpatron der Bierbrauer bekannt.

Der deutscheste aller deutschen Bäume als Säule? Klar, dass damals die garten- und parkverrückten Adligen ihn in ihren Anlagen haben wollten. Zahlten sie doch schon Unsummen für exotische Pflanzen und Samen von Ginkgo oder Mammutbaum, die Abenteurer und Kaufleute aus China oder Amerika nach Europa brachten.

Aber nur aus etwa zwei Prozent der Eicheln sprossen auch Säulenformen. Also musste man veredeln, wie das in der Gärtnersprache heißt. Das ist jene Art von grüner Gentechnik, wenn man einen Trieb auf eine Unterlage pfropft, um die Sorte zu vervielfältigen. Klonen heißt das heute und ist eine natürliche Technik, die zum Beispiel auch bei der Zucht von Rosen- oder Obstsorten verwandt wurde. Die über 900 Jahre alte Apfelsorte „Edelborsdorfer“ konnte so durch Veredelung auf immer neue Stämmchen bis heute erhalten werden.

Meine etwas unglücklich wachsende Säuleneiche blieb von der ersten Saison an hinter ihrem Zwilling zurück. Sommers bekam sie einen Extra-Eimer Wasser und besonders guten Kompost als Dünger. Während der meine Eiben um rekordverdächtige 30 bis 40 Zentimeter pro Jahr in die Höhe schießen ließ, kümmerte die Eiche vor sich hin. Auch Pferdedung, den ich bei einem nahen Reiterhof besorgte, blieb ohne nachhaltige Wirkung. Überhängende oder verdrehend wachsende Zweige schnitt ich, streng nach dem Gärtnerhandbuch, mit extra scharfen Scheren ab, um die Schnittstellen nicht zu pressen – und verschloss diese anschließend mit Wundbalsam. Das war bedeutend schonender als das, was der Förster des Grafen von Hanau gegen aus der Form geratene Triebe unternommen hatte: Zweige, die er mit der Schere nicht erreichen konnte, schoss er der Legende nach mit einer Flinte ab. Die Mutter aller Säuleneichen hat es schad- und klaglos überstanden. Jedenfalls ist nichts anderes bekannt.

Gegen Mehltau spritzte ich vorbeugend einen Sud aus Ackerschachtelhalm und gegen aktuellen Befall Knoblauchbrühen, die mir eine befreundete Öko-Gärtnerin angerührt hatte. Gegen Pilzbefall arbeitete ich zudem Steinmehl in den Boden ein und entsorgte abgefallene Blätter separat in den Hausmüll. Alles vergeblich. Vor etwa fünf Jahren wurden die Blätter meines Sorgenkindes Wochen vor ihrem Zwilling gelb. Erst nur in der Spitze, dann auch in den Seitentrieben. Von oben nach unten. Jedes Jahr ein bisschen mehr und ein wenig früher. diesmal wurden die Blätter schon Ende Juni bräunlich. Haben Pilze die Leitungsbahnen für die Nährstoffe verstopft? Ein Gärtnermeister wusste jetzt auch keinen Rat. Meine Frau Anke sprach dann aus, was wir drei dachten. „Dann muss er weg.“ Der Gärtner nickte. Ich auch.Traurig, aber wahr.

Bis zum nächsten Wochenende, herzlichst Ihr Karl Günther Barth