Wenn die Nadeln ein Alter erreicht haben, in dem sie ihren Zweck nicht mehr erfüllen, müssen sie runter.

„Ich glaube, die Kiefer an der Remise hat was.“ Wenn meine Frau Anke so etwas sagt, bin ich alarmiert. Mit Krankheiten kennt sie sich nämlich aus. Sie hat zwar nicht Medizin studiert, ist aber eine begeisterte Leserin der Medizinseiten von Zeitungen und Zeitschriften – was sich vor allem auf unseren Speisezettel auswirkt. Ich glaube, ich habe noch nie in meinem Leben so viel und vor allem so regelmäßig Obst und Gemüse gegessen wie in den letzten Jahren.

Ist ja auch gut so. Und gesund. Und passt zum Sonntagsbraten, den es jetzt, in der kälteren Jahreszeit, wieder häufiger geben wird. Ich bin nämlich ein begeisterter Sonntagsbraten-Bräter. So richtig altmodisch, mit kräftigen Soßen. Die jüngsten Krebs-Warnungen vor dem Verzehr von Fleisch nehme ich schon ernst. Aber beim Braten hört der Spaß auf. Auch Anke hat ihre Befürchtungen – aber die gelten, glaube ich, mehr dem Chaos, das ich angeblich jedes Mal in unserer Küche anrichte. Dabei räume ich doch auch selber auf!

Das sei nicht normal, sagte sie und deutete auf die rötlich-gelben Nadeln unter der Mädchenkiefer. Ist es aber. Ich habe auch einige Zeit gebraucht, das zu begreifen. Als unsere Pinus parviflora noch relativ klein war, hatte ich den Nadelfall nicht so recht bemerkt. Allerdings als Erstes bei ihr und nicht bei anderen Kiefernarten in unserem kleinen Mühlenpark im Wendland, weil die ursprünglich aus Japan stammende Sorte einen besonders auffälligen Nadelfall hat. Ich hatte damals auch an eine Krankheit gedacht, bis mich ein alter Gärtnermeister aus Dahlenburg darüber aufklärte, dass sich auch sogenannte Immergrüne wie Kiefern, Tannen oder Fichten durch Abstoßen ihres Grüns auf den Winter vorbereiten – anders als Laubbäume aber nur zu einem Teil.

Nadelbäume sind anders als Laubbäume von Natur aus besser an Kälte und Trockenheit angepasst. Eine Wachsschicht auf den Nadeln sorgt dafür, dass sie weniger Wasser über die ohnehin sehr viel kleinere Blattfläche verdunsten. Das ist im Winter wichtig, weil bei gefrorenem Boden der Wassernachschub ausbleibt. Würden Laubbäume ihr Blattwerk behalten, würden sie bei Minusgraden sozusagen gefriergetrocknet. Gleichzeitig bieten entlaubte Baumriesen mit weit ausladenden Ästen weniger Auflagefläche für Schnee. Bei mächtigen Eichen könnte das zu tonnenschweren Lasten führen, unter denen ja auch schon mal Hallendächer einkrachen können.

Fichte, Tanne und Co. sind schon durch ihren schmaleren, oft kegelförmigen Wuchs besser gegen Schneebruch gerüstet. Kiefern, besonders Arten, die aus weniger schneereichen Regionen dieser Welt stammen, haben einen breiteren Wuchs, ihre Kronen weisen oft große Löcher durch Schneebruch auf.

Aber warum nadeln dennoch Koniferen in Herbst und Winter? Sie stoßen diejenigen Nadeln ab, deren schützende Wachsschicht alt und brüchig geworden ist und die damit auch nicht mehr leistungsfähig genug sind für die Fotosynthese, bei der die Pflanzen unter anderem das berüchtigte Kohlendioxid (C02) in der Luft in wichtige Nährstoffe umwandeln. Tannen, das habe ich jetzt aus dem wunderbaren Buch „Das geheime Leben der Bäume“ des Försters Peter Wohlleben gelernt, behalten dann immer noch zehn, Fichten sechs und Kiefern drei Jahrgänge ihrer Nadeln. Man erkennt das an den jeweiligen Zweigabschnitten. Speziell Kiefern, bei denen etwa ein Viertel des Grüns abgeworfen wird, können im Winter „etwas gerupft wirken“ – sagt der Autor in dem Buch (Verlag Ludwig, 220 Seiten, 19,90 Euro), das seit Monaten an der Spitze der Bestsellerlisten steht. Im Frühjahr kommt mit frischen Trieben dann ein neuer Jahrgang hinzu, die Kronen sehen wieder voller aus.

Laut Wohlleben geschehen im Wald die erstaunlichsten Dinge. Bäume kommunizieren miteinander, haben Gefühle, ein Gedächtnis und sorgen sich sogar um ihre Nachbarn. Mit Duftstoffen warnen sie diese zum Beispiel vor gefräßigen Insekten. Lauter faszinierende Geschichten, die der Autor auf eigene Beobachtungen und wissenschaftliche Erkenntnis stützt. Ich bin kein Wissenschaftler und kann seine manchmal esoterisch wirkenden Thesen nicht überprüfen. Aber vieles leuchtet mir ein, manches habe ich in unserem kleinen Mühlenpark selbst erlebt. Und wo er etwas nicht weiß, gibt er das auch zu. Etwa, warum die Lärche wie ein Laubbaum ihre Blätter im Herbst abwirft. Vielleicht hat es damit zu tun, dass Lärchen besonders an Standorte im Hochgebirge und im hohen Norden angepasst sind, wo die Frosttrocknis naturgemäß besonders stark ist. Da helfen die Überlebensstrategien der Schwestern Tanne und Fichte auch nicht mehr, der Baum wirft seine Nadeln lieber gleich ganz ab.

Bis zum nächsten Wochenende, herzlichst Ihr Karl Günther Barth