Wenn sie ihr Ende nahen fühlen, treiben sie häufig noch mal kräftig Blüten, um ihre Gene weiterzutragen. Darin sind sie alternden Männern nicht unähnlich

Haben Bäume eigentlich Angst vor dem Tod? Als mir meine Frau Anke diese Frage neulich stellte, stand sie in unserem kleinen Mühlenpark im Wendland nachdenklich vor einer Papierbirke, deren herbstlich gelbe Blätter im Nieselregen besonders fahl wirkten. Haben sie. Aber deswegen verlieren sie im Herbst nicht ihre Blätter.

Bäume sind auch nur Menschen – und die kennen sich mit der Angst vor Tod bestens aus. „German Angst“ hat es sogar in den angelsächsischen Wortschatz geschafft wie früher etwa das Wort Kindergarten. Im Moment haben wir Deutschen offenbar zwar mehr Angst vor Flüchtlingen und vor einheimischen Radikalen – je nach politischem Standort. Keine Sorge, ich werde das hier nicht weiter erläutern. Anke sagt immer, ich soll über Blumen schreiben und nicht über Politik.

Also gut. Bäume haben keine Angst vor Flüchtlingen, aber vor dem Tod. Absterbende Bäume treiben noch einmal kräftig Blüten. Wenn ein Baum – bei Fichten kann man das zum Beispiel gut beobachten – das Ende nahen fühlt, will er sich schnell noch vermehren und seine Gene weitertragen. Angstblüte nennt das der Botaniker. Diese Furcht vor dem Tod kann durch Kälte, Nässe und Trockenheit ausgelöst werden. Der heiße trockene Sommer hat bei uns in manchen Regionen zum Beispiel Apfelbäume so in Panik versetzt, dass im Herbst neue Blüten gleichzeitig neben reifenden Früchten zu sehen waren.

Der Homo sapiens neigt übrigens deutlich mehr zur Ängstlichkeit als die Pflanzen. Jedenfalls in Deutschland. Als gegen Ende des letzten Jahrhunderts die Gesellschaft fast kollektiv die Furcht vor saurem Regen und dem Baumsterben befiel, war das Phänomen Angstblüte allerdings mehr bei den Menschen zu beobachten als bei den Bäumen. Die waren davon vergleichsweise eher vereinzelt befallen waren.

Bei den Menschen ist die Angstblüte eher männlich. Heiraten deshalb ältere Männer noch einmal eine jüngere Frau? Wollen die Kerle einfach nur ihre Gene weitertragen, sozusagen auf den letzten Drücker? Den Schriftsteller Martin Walser hat das Problem des alt werdenden Mannes sogar in einem dicken Roman mit dem Titel „Angstblüte“ verewigt.

Gibt es auch einen Zusammenhang zwischen der Angstblüte und dem berüchtigten Altherrenhumor? Nach dem Motto: Je nachlassender der Testosteronfluss, desto zotiger der Witz? Harald Martenstein, der Groß-Ironiker des deutschen Kolumnenwesens, verweist auf eine Heerschar von Herren, die erst im fortgesetzten Alter richtig gut wurden. Charlie Chaplin etwa, Walter Matthau, Wilhelm Busch, Heinz Erhardt und der unglaubliche Loriot. Witzige Frauen wie Anke Engelke, Maren Kroymann oder Ina Müller fand Martenstein so selten wie weibliche Vorsitzende von Angelsportvereinen.

Zurück zum Baum. Mit sinkenden Temperaturen nehmen die Wurzeln immer weniger Wasser auf und stellen das nahe dem Gefrierpunkt ganz ein. Hätte ein Baum dann noch Blätter, über die etwa eine 100-jährige Buche bis zu 400 Liter am Tag verdunstet, würde er ganz schnell verdursten. Nadelbäume verlieren ihre „Blätter“ nur zum Teil, weil sie mit einer Art Schutzschicht überzogen sind. Bei der Lärche etwa ist sie zu dünn, weswegen sie im Winter auch kahl wird. Bevor ein Baum die Blätter abwirft, entzieht er ihnen das Chlorophyll mit dem Farbstoff grün, weil er es im Winter für die Fotosynthese nicht braucht. Das Chlorophyll zerlegt die Pflanze in mehrere Bestandteile und lagert sie in Stamm und Wurzeln bis zum Frühling ein.

Die Photosynthese ist der wichtigste biochemische Vorgang auf der Welt. Mit Hilfe des Chlorophylls produzieren Pflanzen aus Wasser, Kohlenstoffdioxid und Sonnenlicht Glucose und Sauerstoff. Kohlenstoffdioxid ist das berüchtigte und giftige C02, das wir unter anderem aus den Auspuffrohren unserer Autos in die Luft blasen. Aus Glucose, also Zucker, entstehen die Nährstoffe für die Pflanze, den Stauerstoff gibt sie als Abfallprodukt über die Blätter wieder an die Umwelt ab. Deswegen sind Pflanzen unsere grünen Lungen. Ohne sie fehlte uns die Luft zum Atmen.

Mit dem Verschwinden des Chlorophylls kommen andere Pigmente für Gelb, Rot und Orange zum Vorschein, die bislang überdeckt waren. Für die Bäume ist das wie ein kleiner Tod – uns Menschen beschert er das unglaubliche Farbenspiel des Herbstes.

Gleichzeitig entsteht an den Blattstielen eine Art Sollbruchstelle, die Blätter fallen beim geringsten Windhauch ab. Die Pflanze fährt dann im Winter in einer Art Sparmodus. Im Frühjahr gibt sie wieder Gas und treibt neue Blätter. Gesteuert wird der Prozess über Hormone – wie so viele bei uns auch. Bäume sind halt auch nur Menschen.

Bis zum nächsten Wochenende, herzlichst Ihr Karl Günther Barth