Sie sind die erste Sorte, die reif ist. Aber weil sie sich nicht lagern lassen, gibt es sie kaum zu kaufen. Am besten schmecken sie als Mus..

Es ist der Duft eines Apfels, der zu meinen schönsten und aufregendsten Kindheitserinnerungen zählt. Nicht irgendeines Apfels. Es ist der des Klar­apfels. Die mittelgroßen Früchte schmeckten, obwohl leicht säuerlich, besonders gut. Vielleicht, weil sie die erste Sorte waren, die reif wurde. Vielleicht auch, weil es dann Anfang, Mitte Juli war, die großen Ferien begonnen hatten – und mit ihnen der Sommer.

Sommerapfel hieß die Sorte bei uns im Westfälischen auch, wo ich groß geworden bin. Besonders gut schmeckten sie natürlich frisch vom Baum. Leider gab es im Garten meiner Eltern nur Cox Orange und Boskop, die erst ab Oktober reif wurden und die meine Eltern wegen ihrer Lagerfähigkeit im Winter besonders schätzten.

Klaräpfel gab es in der weiteren Nachbarschaft nur zwei. Ihr Duft lockte uns Jungens magisch an, „Äppel klauen“ war ein Sport. Nur erwischen lassen durfte man sich nicht. Dann gab es schon mal einen Satz heiße Ohren. Damit war die Sache auch erledigt. Heute wäre beides kaum vorstellbar, ein Fall für den Staatsanwalt. Diebstahl oder Körperverletzung! Mindestens! Kindesmisshandlung! Als ich, ein einziges Mal, sozusagen auf frischer Tat ertappt wurde und mich anschließend bei meinem Vater mit Tränen in den Augen beschwerte, gab es von ihm noch eine Kopfnuss extra. Weil ich mich hatte erwischen lassen. Im nächsten Frühjahr pflanzte mein Vater dann auch einen Klarapfel-Baum. Irgendwie schmeckten die dann später doch nicht so gut wie die aus Nachbars Garten ...

Klaräpfel gab es kaum zu kaufen, haben es nie wie Braeburn, Elstar oder Jonagold zum großflächigen Anbau gebracht, weil sie nicht lagerfähig sind. Schon wenige Tage nach der Reife werden sie mehlig, und nach etwa 14 Tagen lassen sie sich nicht mal mehr zu Saft oder Kompott verarbeiten. Trotzdem brachte es die alte Sorte, die erstmals in einem Gedicht des schwedischen Poeten Carl Michael Bellmann (1740–1795) erwähnt wurde, zu großer Popularität. Pomologen, so heißen die Leute, die sich wissenschaftlich mit Zucht und Anbau von Kernobst beschäftigen, vermuten, dass der Klarapfel ein Zufallssämling aus dem guten alten Hausapfel (lateinisch: Malus domestica) ist und 1852 über eine Gärtnerei im lettischen Riga nach West- und Mitteleuropa kam. Dort fand der Frühreife aus dem Baltikum schnell Verbreitung. Er wächst auf fast allen Böden, wird nicht sehr groß und passt mithin auch in kleinere Gärten. Er ist, kein Wunder bei seiner Herkunft aus dem hohen Norden, besonders winterhart. Die zahlreichen Blüten des Korn- und Haferapfels, wie das robuste Gehölz auch heißt, trotzen sogar späten Frösten.

Besonders populär ist der Sommerapfel aber wegen seiner außergewöhnlich frühen und reichlichen Ernte. Nach Erdbeere und Kirsche sorgte die Natur für Nachschub an Frischobst. Tiefkühltruhen gab es damals ebenso wenig wie Flugzeuge, die Äpfel aus Neuseeland oder Südafrika heranschafften.

Dafür war Hochbetrieb in den Küchen unserer Urgroßmütter. Sie kochten ein, was das Zeug hielt: Klarapfel gibt ein gutes Kompott und eignet sich hervorragend für Apfelmus. Schmeckt besonders lecker zu Reibekuchen, was bei uns im katholischen Münsterland im Winter ein preiswertes Essen am fleischlosen Freitag war. Wenn wir heute in unserer Mühle im Wendland mal Reibekuchen machen, steuert meine Frau Anke, die in Ost-Berlin groß geworden ist, ein altes DDR-Rezept ihrer Mutter bei. Ist ganz einfach, dauert maximal eine Stunde und ist total lecker.

Man braucht dazu etwa zwei Kilo Klaräpfel, 750 Gramm Zucker, den Saft einer halben Zitrone, jeweils eine Messerspitze gemahlene Nelke und Zimt. Die Äpfel entkernen, klein schneiden und mit den restlichen Zutaten in einem Topf mit einem halben Liter Wasser weich kochen. Dann mit der Flotten Lotte passieren und kalt stellen. Die Flotte Lotte ist eine handbetriebene Passiermühle mit auswechselbaren Sieben – je nach Größe der Löcher wird das Mus grober oder feiner. So ein Küchengerät hat den Vorteil, dass man die Äpfel nicht schälen muss. Wie ihre Mutter glaubt Anke nämlich, dass gerade unter der Schale die meisten Vitamine sitzen. Bei der Flotten Lotte wird sie nämlich nicht durchs Sieb gedrückt. Bequemer ist das Pürieren mit dem elektrischen Zauberstab. Dann sollte man allerdings die Äpfel vor dem Weichkochen schälen.

Die Klaräpfel für unser Mus muss ich heute nicht mehr stibitzen. Ich wäre wohl auch zu alt dafür. Wir bekommen sie von einer Nachbarin – im Gegenzug treten wir ihr im Herbst einen Korb mit Quitten ab, aus denen sie ein tolles Gelee macht. Mit einem Schuss Kirschwasser. Auch sehr lecker.

Bis zum nächsten Wochenende, herzlichst Ihr Karl Günther Barth