Beispiel Wacholderdrossel: Sie hat eine so große Leber, dass sie sogar Alkohol in gegorenen Früchten verträgt und trotzdem fliegen kann.

„Warum“, fragte mich meine Frau Anke, „müssen wir Menschen Holunder- oder Vogelbeeren erst abkochen und durchseihen, bevor wir davon Gelee machen können? Aber Vögel fressen die roh, ohne dass die gleich tot umfallen.“ Gute Frage, die Beeren dieser Sträucher und Bäume sind zwar nicht so giftig, dass wir Menschen nach dem Verzehr von ein paar Früchten gleich schwer krank werden, aber Übelkeit und Erbrechen, schwerer Durchfall, notfalls Fieber sind ja auch etwas, auf das man gerne verzichten kann.

In meinen Gartenbüchern, und das sind nicht wenige, fand ich auf die Schnelle auch keine Antwort. Es hatte mich bislang auch nicht sonderlich interessiert. Mir reichte es zu wissen, ob und welche Früchte man wie essen oder zubereiten kann. Und bei welchen man bei Kindern aufpassen muss, weil die viel mehr als wir Erwachsene leiden würden. Natürlich hatten wir bei der Anlage unseres kleinen Mühlenparks im Wendland auch darauf geachtet, sogenannte Vogelnährgehölze wie Holunder, Pfaffenhütchen, Liguster oder Wildrosen zu pflanzen. Und natürlich wollten wir auch, das gebe ich ja gerne zu, ökologisch korrekt sein. Unsere Naturhecken waren für unser Gewissen so etwas wie Ausgleichsflächen für Rhododendren und Co, die für Vögel Null interessant sind. Etwa so, wie die Hamburger, als sie für Airbus das Mühlenberger Loch zuschütteten entsprechend den Umweltvorschriften woanders naturbelassene Ausgleichsflächen schaffen mussten.

Als Journalist begann ich zu recherchieren und fand zunächst heraus, was ich eigentlich nicht wissen wollte. Etwa, dass Vögel deswegen im Schlaf nicht vom Baum fallen können, weil ihre Krallen wohl nach einer Art Wäscheklammerprinzip fungieren. Sehnen und Muskeln sind im Schlaf gewissermaßen arretiert. Sie öffnen sich auch nicht, wenn die Äste, auf denen die Vögel sitzen, sich bewegen. Erst wenn sie aufwachen und mit den Flügeln schlagen, wird die Arretierung aufgelöst.

Experten, die ich befragte, wussten auf Anhieb auch keine „wissenschaftlich fundierte Erklärung“, warum Vögel giftige Beeren vertragen. Es müsse wohl etwas mit einem speziellen Stoffwechsel der Vögel zu tun haben. In die richtige Spur brachte mich Marco Sommerfeld, Referent für Vogelschutz beim Naturschutzbund in Hamburg. Der machte mich auf eine Dissertation von Holger Stiebel aus dem Jahr 2003 aufmerksam. Danach fressen Vögel täglich fast die dreifache Menge ihres Körpergewichts und scheiden die Abfallstoffe genauso schnell wieder aus – mit den Kernen, die gar nicht verdaut werden können. So sorgen sie dafür, dass die Pflanzen verbreitet werden – und ich weiß, warum ich jedes Jahr Dutzende von zum Beispiel Holunder- oder Eibenschößlingen an Gehölzrändern rausreißen muss, wo die Amsel, Rotkehlchen und Co. bevorzugt hinscheißen, Fruchtkerne ausscheiden und so für die Fortpflanzung der Sträucher sorgen

Es wäre zu kompliziert, hier zu erklären, welche Vögel welche Abwehrmechanismen gegen Gifte entwickelt haben, über die Säugetiere nicht verfügen. Es hat, laut Dissertation Holger Stiebels, mit dem „Bau des inneren Verdauungstraktes oder auch der Enzymausstattung“ zu tun – je nachdem, um welches Gift es sich handelt. Da gibt es etwa Tannine, Saponine oder Cyanogene Glykoside, also Blausäure. Reiben Sie einmal an den Blättern des Bodendeckers Cotoneaster horizontalis, und Sie riechen den typischen Bittermandelgeruch, den jeder Krimi-Fan kennt.

Für Vögel hat der Baukasten der Natur die unterschiedlichsten Abwehrsysteme erfunden, um sie vor Gift in der Nahrung zu schützen. Sie haben zum Beispiel eine relativ große Leber, die das Entgiftungssystem auch unseres Körpers ist. Extrem groß ist die vom Star und bestimmten Drosselarten. Sie lieben die roten Beeren der Eberesche, die im Volksmund auch Drosselbaum heißt. Wenn diese abfallen und verfaulen, entsteht bei der Gärung Alkohol. Bei den Mengen, die sie fressen, könnten sie eigentlich nicht mehr fliegen. Dank ihrer großen Leber stecken sie den Alkohol locker weg, während andere Vögel da schon ins Taumeln geraten können, wie ich selber in unserem Mühlenpark beobachtet habe. Vielleicht kommt daher ja auch der Name Schnapsdrossel.

Bis zum nächsten Wochenende, herzlichst Ihr Karl Günther Barth

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