Ihr Beruf ist anstrengend und hoch technisiert. Was reizt Ärzte daran, in ihrer knappen Freizeit in engen Kleinbussen und mit einfachsten Mitteln ehrenamtlich Obdachlose und Migranten zu behandeln? Wir stellen vier dieser Mediziner vor

Der barmherzige Samariter

Die Geschichte über den Mann aus Samaria ist das biblische Vorbild für viele ehrenamtliche Helfer

Die Geschichte aus dem Lukas-Evangelium ist schnell erzählt: Ein nicht sehr wohlhabender Reisender wird unterwegs überfallen, zusammengeschlagen, ausgeraubt und verwundet liegen gelassen. Zwei, die eigentlich helfen müssten, gehen wenig später vorbei, ohne sich zu kümmern. Ein Dritter, von dem so Recht niemand erwarten kann, dass gerade er hilft, tut genau das – und das mit großer Umsicht. Er verbindet den Verwundeten, bringt ihn in eine Unterkunft, wo er versorgt wird, zahlt für ihn und verspricht, auf dem Rückweg noch einmal vorbeizuschauen.

So etwas geschieht zum Glück nicht so selten. Was aber ist dann das Besondere an dieser Erzählung, dass sie zu den bekanntesten biblischen Überlieferungen wurde und sich bis heute sogar ganze Organisationen nach dem Mann aus der Provinz Samaria benennen, der hier so direkt und ohne Zögern hilft?

Es ist zweierlei: Zum einen ist sie eine Lehr-Erzählung. Sie antwortet auf die Frage, was es eigentlich braucht, damit Leben gelingen kann. Und sie antwortet damit, dass das Leben von Menschen nur gelingen kann, wenn wir uns anrühren lassen davon, dass Menschen auf uns angewiesen sind. In der Erzählung heißt es, dass es dem Mann aus Samaria „durch und durch“ ging, als er den Überfallenen so liegen sah. Wenn mir etwas „durch und durch“ geht, dann möchte ich nur noch, dann kann ich nur noch das tun, was meine Menschlichkeit ausmacht: dem anderen ein Mitmensch sein. Ohne Ausreden, ohne Zögern, ohne Verweis auf andere, ohne eigenen Schutz. Das drückt sich in dem etwas altmodisch daherkommenden Wort „Barmherzigkeit“ aus.

Barmherzig sein bedeutet, sich nicht mehr zu schützen vor dem anderen und auch nicht vor dessen Not, sondern das eigene Herz zu öffnen, sich anrühren zu lassen. Dann, so die Erzählung, geschieht das, was biblisch „Gottes Wille“ genannt wird: dem anderen Menschen ein Mensch sein, ohne Wenn und Aber. Das wäre der Himmel auf Erden, buchstäblich. Und weil alle spüren, dass das so wäre, ist diese Erzählung vom „barmherzigen Samariter“ so bekannt geworden.

Aber es gibt noch einen anderen Grund. Man kann diese Geschichte nämlich aus verschiedenen Perspektiven hören und sich selbst schnell einfinden. Die Rolle, in der man sich am wohligsten einrichten kann, ist die des Samariters. Denn noch bevor die Geschichte zu Ende ist, wird erkennbar: Er macht alles richtig. In der Rolle derer, die – aus welchen Gründen auch immer – an dem Verletzten vorbeigehen, mag sich niemand sehen. Dann schon eher in der Rolle des Hoteliers, der gegen Geld professionell hilft. Der Überfallene selbst und die Räuber bleiben meist unberücksichtigt.

So ist schnell klar, wer hier gut und wer böse ist, mit wem man sich identifizieren kann und an wem man sich erbauen mag. Aber Vorsicht: Das gibt die Erzählung nicht her. Für uns wäre es hilfreich und notwendig, gerade über die ungeliebten Rollen nachzudenken: Wer oder was sind wir eigentlich wirklich, wenn wir diese Erzählung in die heutige, etwas komplexere Welt übersetzen? Wir wollen barmherzig sein und ab und an gelingt es. Aber wie oft gehen wir an Menschen vorbei, weil es einfach nicht passt, in dem Sinne Mensch zu sein, wie es die Erzählung zeigt? Oder wie oft gehen andere an uns selbst vorbei? Und – um noch einmal in eine ganz andere Richtung zu schauen – gehören wir tatsächlich nicht eher zu den Räubern, die gerade den Armen die Perspektive nehmen, die für uns selbst so selbstverständlich ist? In der Realität mischen sich die Rollen, die in der Erzählung so sorgfältig getrennt scheinen.

Diese Erzählung will keine Moral predigen, dann wäre sie missverstanden. Sie will verstören, sie will uns aufzeigen, wer wir sind. Und sie will uns zum Nachdenken bringen über das, was wir tun könnten und können, damit diese Welt bewohnbarer wird und damit der Mensch nicht des Menschen Feind bleibt.

Wenn diese Erzählung eine Botschaft hat, dann diese: Es geht nicht um ein bisschen mehr Menschlichkeit, sondern um ein ganz anderes Verständnis davon, was Menschlichkeit bedeutet. Und sie zeigt, dass sich das leben lässt, zumindest in Annäherungen. Damals wie auch heute.

Der Autor ist Leiter der Abteilung Diakonie und Bildung beim Kirchenkreis Hamburg-Ost