Michael Klesper saß insgesamt 18 Jahre im Gefängnis. Seit zwei Jahren versucht er, sich wieder zu integrieren

Die Leute gucken. Er merkt das. Warum, das kann er gar nicht genau sagen. Vielleicht ist es seine blasse Haut. Das eingefallene Gesicht. Der Blick aus den zusammengekniffenen Augen. Vielleicht sind es die Tätowierungen, die den ganzen Körper bedecken. Und die Geschichten erzählen, von Tagen, an denen der von Drogen angenagte Körper nach Aufmerksamkeit schrie. Nach Halt und Perspektive. Es sind Bilder aus dem Knast. Sie gehen ineinander über, so wie die Monate und Jahre, die Michael Klesper im Gefängnis verbringen musste. Er hat gerechnet. „18 Jahre waren es insgesamt“, sagt er. Er ist jetzt 50. Und seit zwei Jahren raus aus der Haft.

So lange hat er es noch nie geschafft. Ohne Drogen, ohne Diebstähle und Gewalt. Er, die Randfigur, am Abgrund stehend, der Verstoßene, der Gescheiterte. „Im Grunde habe ich nie richtig dazugehört“, stellt er fest. Zu denen, die ihr Leben meistern, den Anforderungen der Gesellschaft genügen, die akzeptiert werden. Er war immer außen vor. Jetzt aber möchte er dazugehören. „Ich habe so viele Jahre meines Lebens sinnlos verbracht“, sagt er traurig.

Seine Mutter ist 16, als sie ihren ersten Sohn, Michael auf die Welt bringt. Der Vater, vier Jahre älter, kann die Verantwortung nicht tragen. Er ist einer, der seine Kinder herumkommandiert und sie auf dem Hof arbeiten lässt. Michael und sein jüngerer Bruder Patrick müssen nach der Schule Hühner, Tauben, Kaninchen füttern. Wenn sie nicht parieren, wird der Vater laut. Manchmal schlägt er zu. Es ist eine traurige Kindheit. Verlorenheit, Zurückweisung und Angst, das sind die Gefühle, an die sich Michael Klesper erinnern kann. Er möchte sie abschütteln und flieht. Dass sie sich fest in die kindliche Seele eingebrannt haben, dass sie ihn begleiten werden durch das Leben, ahnt der damals 13-Jährige nicht. Er läuft von zu Hause weg, kriecht bei einem Freund unter, beginnt, Hasch zu rauchen, Tabletten zu schlucken. Die Welt sieht freundlicher aus, wenn die Nüchternheit weicht. Aber die rosarote Brille der Opiate kostet Geld. Viel Geld. Mit 15 bricht er das erste Mal in eine fremde Wohnung ein, klaut Schmuck und Geld. Kurze Zeit später erwischt ihn die Polizei. Wegen Diebstahl, Einbruch und Drogenbesitz kommt er in Haft. 39 Monate lautet das Urteil des Gerichts.

Im Knast geht es ihm vergleichsweise gut. Es gibt einen festen Rahmen, Arbeit, Essen und eine Gemeinschaft. Was es nicht gibt, ist menschliche Wärme, Verständnis, Halt. Mit 18 darf er das Gefängnis verlassen. 70 Tage ist er draußen. 70 Tage, in denen er neu in alte Muster verfällt. Drogen, Kriminalität, Drogen. Wieder wird er verurteilt. Wieder geht er in den Knast.

Er verliert seinen Bruder an einer Überdosis Heroin. Da ist Michael Klesper 27 Jahre alt. „Das hat mir den Boden unter den Füßen weggerissen“, sagt er. Freundschaften zerbrechen, Beziehungen gehen auseinander, der Kontakt zur Mutter reißt ab. Wo gehöre ich hin?, fragt er sich in nüchternen Stunden. Er findet keine Antwort.

Es sind fast zwei Jahrzehnte, die immer nach dem gleichen Schema ablaufen. Sobald er seine Strafe abgesessen hat, begeht er die nächste Straftat und landet wieder hinter Gittern. „Drehtüreffekt“, nennt er das. Die Spielregeln im Knast kennt er, die draußen in der Gesellschaft nicht. Er hat nie gelernt, dass man sein Leben selbst in die Hand nehmen muss, dass man sich auch ohne Gewalt durchsetzen kann und Niederlagen im Alltag dazu gehören.

Im Januar 2012 besucht ihn ein Mann in der Haftanstalt. Er heißt Hein Kroll, arbeitet für das Projekt „Trotzdem“ des Vereins Integrationshilfen e.V. Es ist ein diakonische Wohnprojekt, das obdachlosen Haftentlassenen im gesamten Hamburger Stadtgebiet Wohnraum anbietet. Nur zum Übergang – bis zur eigenen Wohnung. Es gibt dort Sozialpädagogen, die beraten, Menschen, die zuhören und Verständnis haben für jemanden, der abrutscht in der Gesellschaft und aus eigener Kraft nicht mehr den Anschluss findet. Sie helfen, wenn es darum geht, eigenen Wohnraum nach der Übergangswohnung zu finden. Sie beraten bei Anträgen und Behördengängen und begleiten auf dem Weg in das gesellschaftliche Leben. Als Michael Klesper im März 2012 aus der Haft entlassen wird, ist da zum ersten Mal jemand, der ihn an die Hand nimmt. Der ihm zeigt, dass es andere Wege gibt. Und neue Räume des Lebens, die er betreten kann.

Seit zwei Jahren lebt er inzwischen in dem Wohnprojekt. Normalerweise ziehen die Betreuten nach sechs bis zwölf Monaten aus. Michael Klesper aber braucht länger. Er teilt sich ein Zwei-Zimmer-Apartment mit einem Mitbewohner, hat sich sein Zimmer eingerichtet, einen Computer und einen Fernseher. Und er hat Freunde gefunden, Ralf und Gabi, die inzwischen aus dem Wohnprojekt ausgezogen sind und eine eigene Wohnung gefunden haben. Er bekommt Hartz IV und das Heroin-Substitut Polamidon. Und Zeit, sich zu integrieren. Er engagiert sich in dem Projekt „Step!“, in dem Haftentlassene Jugendliche aufklären, er hilft auf dem Bauspielplatz. Das erste Mal im Leben fühlt er sich nicht mehr allein, spürt, dass er auch was geben kann. Das gibt etwas Selbstbewusstsein. „Ich habe mit den Menschen von ‚Trotzdem‘ eine Ersatzfamilie gefunden“, sagt er. Aber bis man so richtig in der Gesellschaft ankomme, das dauere wohl noch ein bisschen. „Ich hätte so gerne eine Partnerin und einen Job.“ Derzeit sucht er nach einer eigenen Wohnung. Weil er sich wünscht, Privatsphäre zu haben. Bei den Besichtigungen hat er kaum Chancen. Weil er trotz abgesessener Haftstrafe für seine Mitmenschen ein Krimineller bleibt. Aber ohne Wohnung bekommt er keine Arbeit. Und ohne Arbeit bekommt er keine Wohnung. Es ist ein Teufelskreis in dieser Gesellschaft, aus dem Michael kaum ausbrechen kann. Er weiß, dass er die Vergangenheit nicht umschreiben kann. Aber ein neues Kapitel aufgeschlagen, das zumindest hat er bereits getan.