Dieter Sehring war lange obdachlos. Mit kirchlicher Hilfe bekam er eine Wohnung und einen Job

Dieter Sehring kennt das Gefühl nur zu gut, wie es ist, wenn sich in der S-Bahn keiner neben einen setzt. Wenn man quasi unsichtbar ist für die „Bürgerlichen“, wie er sie nennt, und wenn sie nur hinter seinem Rücken Worte wie „Schau mal, der stinkende Penner“ tuscheln und sich angeekelt abwenden. Das tut weh, auch wenn Sehring es nicht so direkt zugeben will. „Wenn du besoffen bist, ist dir das egal, denke ich. Aber es ist schon so, dass mich über Jahre kein Bürgerlicher einfach so angesprochen hat“, sagt er leise. Der 61-Jährige erzählt offen von seiner Zeit als Obdachloser. Fast sein halbes Leben lang hat er außerhalb der Gesellschaft gelebt, eine Randfigur, meistens sturzbetrunken und nur getrieben von seiner Alkohol-Sucht. Dieter Sehring gibt niemandem die Schuld an seinem verkorkstem Leben außer sich selbst. „Ich habe eben das Saufen nicht lassen können“, sagt er.

Dieter Sehring als Penner? Schwer vorzustellen, wenn man ihn nun so vor sich sieht. Einen liebenswürdigen älteren Mann mit Halbglatze, einem runden Gesicht, fast immer lächelnd und in gepflegter Kleidung. Auch seine winzige Einzimmerwohnung ist blitzsauber. Seit 14 Jahren ist Dieter Sehring nun trocken. Er ist im Osten von Berlin in Oranienburg aufgewachsen, in der damaligen DDR. Kein Säufer als Vater, keine gewaltsame Kindheit, er sucht keine Schuld bei seinen Eltern. Mit 14 Jahren hätte er wie 18 ausgesehen, mit Älteren rumgehangen, die alle tranken. Er hat Schlosser gelernt, später bei einem Volkseigenen Betrieb (VEB) an Präzisionsmaschinen gearbeitet. „Das ging ein paar Jahre ganz gut, obwohl ich abends immer ordentlich getrunken habe“.

Mit Anfang 20 heiratet er seine Freundin, sie bekommen einen Sohn, doch der Alkohol zerstört die Ehe schon nach drei Jahren. Er hat keinen Kontakt zu seinem Kind, auch heute nicht. Seinen Job beim VEB kann er nicht halten, er zieht zu seiner Mutter aufs Dorf und arbeitet bei einem Schweinezucht-Betrieb. Da ist er Mitte 30. „Wegen der Sauferei bin ich auch da rausgeflogen.“

Er schämt sich vor seiner Mutter und geht nach Ost-Berlin, Platte machen. Er ist obdach- und arbeitslos, und das in einem Regime, in dem es jemanden wie ihn gar nicht geben darf. So ist er immer wieder auf der Flucht vor den Volkspolizisten. „Ich habe ständig Senge bekommen von der Polizei. Penner wie ich passten einfach nicht zur DDR. Ich war so außerhalb der Gesellschaft, dass ich irgendwann nicht mehr wusste, wohin ich gehen sollte. Ich war total verzweifelt“, sagt Sehring. An staatliche Stellen will er sich nicht wenden, es ist die Kirche, die ihm hilft. Ein Pastor vermittelt Sehring in ein Männerheim mitten in Mecklenburg. „Das war ein Ort für gestrandete Menschen wie mich“, sagt Sehring. Dort bleibt er zwei Jahre trocken, erlebt eine Gemeinschaft, die ihm gefällt, einen Kokon, den er am liebsten nicht verlassen möchte. Doch das ist nicht das Ziel des Projektes – er soll sich wieder integrieren, obwohl es ihm Angst macht. Denn Dieter Sehring kennt seine Schwächen.

Mithilfe der Kirche bekommt er eine Wohnung in Ost-Berlin, trinkt wieder, verliert die Wohnung, schlägt sich so rum, ständig auf der Flucht – bis die Grenze offen ist. „Da bin ich dann in den Westen der Stadt und fand diese Freiheit richtig klasse. Ich konnte selber entscheiden, ob ich mich todsaufe oder nicht.“ Er trinkt, bis er umkippt und immer wieder im Krankenhaus landet. „Ich war damals so verwahrlost, dass die Pfleger mich mit meinen Klamotten in ein Desinfektionsbad gesteckt haben.“ Dieter Sehring blickt aus dem Fenster und sagt leise: „Ich schäme mich für die Person, die ich damals war.“ Bei seinem letzten Herzinfarkt stirbt er fast, ein Arzt kann ihn gerade noch zurückholen, da ist er gerade Ende 40. „Das war ein unglaubliches Erlebnis. Ich glaube nicht an Gott, aber da haben Kräfte an mir gezogen, die ich nicht beschreiben kann.“ Es ist der Wendepunkt für Dieter Sehring. „Ich wusste, ich muss aufhören mit dem Trinken.“ Er wendet sich an das Sozialamt in Berlin, möchte gerne eine Wohnung, für den Neuanfang. Doch die wollen ihm nicht mehr helfen. „Ich hatte die schon zu oft betrogen“, sagt er selbstkritisch. Ein Kumpel gibt ihm den Tipp, nach Hamburg zu kommen – ins Winternotprogramm auf das Schiff „Bibby Altona“. Er wird „Hintz&Kunzt“-Verkäufer, damit verdient er ein wenig extra.

Wieder ist es eine kirchliche Einrichtung, die ihm hilft. „Die Sozialarbeiter von der Stadtmission haben sich um mich gekümmert.“ Im Frühjahr 2003 vermitteln sie ihn auf den Schäferhof nach Appen, eine Einrichtung für alkoholkranke und wohnungslose Menschen, die zur Diakonie gehört. Ein schöner Gutshof mit Hofcafé und Holzwerkstatt – ein kleines Paradies mitten auf dem Land. „Meine Rettung“, sagt Dieter Sehring – und der Anfang seiner Integration in die Gesellschaft.

Nach Jahren der Massenunterkünfte in Männerwohnheimen hat er nun ein Einzelzimmer und Vollpension. Und einen geregelten Tagesablauf – „das fand ich gut“. Ein wenig Stolz kommt in seine Stimme, als er erzählt, dass der Schäferhof-Leiter ihm kleine Aufgaben übertrug, Schlüsseldienste und Hausmeistertätigkeiten. „Die haben mir was zugetraut, das kannte ich gar nicht mehr. Ich wurde angesprochen, nach meiner Meinung gefragt.“ Er wird zur Vertrauensperson für die anderen Mitbewohner, nimmt wieder Kontakt zu seine Geschwistern auf. Wenn er frei hat, fährt er mit dem Fahrrad nach Wedel.

Das Schönste für ihn ist es, mit „Bürgerlichen“ zu sprechen. Nach Jahren der Unsichtbarkeit plötzlich wahrgenommen zu werden. „Es ist schwer begreiflich für normale Menschen, aber ich habe mich unglaublich daran erfreut, wenn mich jemand nach dem Weg gefragt hat oder ich im Laden mit einer Hausfrau über die Lebensmittelpreise diskutieren konnte. Ich sah aus wie einer von ihnen und konnte mit jedem reden, das war so schön und doch ungewohnt“, sagt er rückblickend. Das Äußere stimmt, aber innerlich ist er noch kein Teil der Gesellschaft. Er tastet sich mit kleinen Ausflügen vorsichtig ran, aus dem Schutz des Schäferhofs heraus. „Ich hätte ewig auf dem Hof bleiben können.“ Doch auch hier ist das Ziel, ihn wieder vollkommen zu integrieren. Er bekommt eine kleine Wohnung der Kirchengemeinde in Tornesch. Diesmal hat Dieter Sehring keine Angst vor dem Alleinsein.

Denn seit 2006 ist er fester „Hintz&Kunzt“-Verkäufer im Einkaufszentrum in Prisdorf bei Pinneberg. An mindestens vier Tagen die Woche steht er dort ab acht Uhr. „Die anderen Einzelhändler sagen, ich sei einer von ihnen“, sagt Sehring stolz. Er werde auch vom Marktleiter gegrüßt. Und natürlich von Kunden, die ihm sogar ihre Probleme anvertrauten. „Ich bin nun ein Teil des Betriebs, ich bin akzeptiert, mehr will ich eigentlich nicht vom Leben.“ Fühlt er sich als Teil der Gesellschaft? „Na ja“, sagt Dieter Sehring, „ich habe zumindest die Illusion, dass es so ist. Ich weiß aber schon, dass ich doch etwas anderes bin, aber das ist vollkommen in Ordnung so.“