Ein Hausboot-Törn auf Frankreichs Canal du Midi, Europas schönster Wasserstraße.

Wasser hat zwar keine Balken, aber Stufen. Wer zum ersten Mal als Freizeitkapitän auf dem Canal du Midi unterwegs ist, betrachtet die vielen Schleusen vermutlich mit einem etwas mulmigen Gefühl. Doch keine Sorge, die Manöver sind gar nicht so schwierig. Wichtig ist es, in der Schleusenmitte einzufahren, das Boot ganz sanft zum Halten zu bringen und es dann in voller Länge an den Kai zu ziehen. Der Schleusenwärter freut sich bestimmt über Hilfe beim Schließen der großen Tore. Dann kurbelt er die Flutklappen auf, das Wasser strömt aus dem Schleusenbecken, und in wenigen Minuten ist das Abenteuer vorbei.

Wer es beim ersten Mal schafft, „auf zu neuen Ufern“ aus der Schleuse herauszufahren, erlebt schon ein recht erhebendes Gefühl. Und das passt zur Gesamtstimmung. Wenn Sie endlich mal richtig abschalten und eine Auszeit nehmen möchten in einer sich immer hektischer aufführenden Welt, dann sind Sie allemal reif für den Kanal. Als Kapitän auf Zeit genießen Sie gleichzeitig eine der romantischsten Regionen Frankreichs.

Schon die Römer träumten von einer Wasserstraße zwischen dem Mittelmeer und dem Atlantik. Von Karl dem Großen bis Franz dem Ersten scheiterten sie alle an der Verwirklichung dieser Idee. Erst ein Steuerbeamter und Hobbyingenieur sollte Ende des 17. Jahrhunderts die technische Meisterleistung vollbringen. Pierre Paul Riquet war das, was man einen Besessenen nennt. Er investierte sein gesamtes privates Vermögen in die Verwirklichung des alten Traums vom Kanal zwischen den beiden Meeren.

Riquet fand die Lösung, wie ein Kanal ständig mit Wasser versorgt werden kann. Er plante ein riesiges Staubecken am höchsten Kanalpunkt, in dem die Wasser der Montagne Noire gesammelt wurden. Ein genau berechnetes System von Zuflüssen garantiert, dass der Kanal immer schiffbar ist. Er konstruierte Kanalbrücken, um die Flussniederungen auf einer „Wasserbrücke“ überfahren zu können, erfand Rundschleusen, die eine größere Manövrierfreiheit für die Boote gewähren.

Ein Blätterdach aus Zehntausenden Platanen

1666 erhielt der unermüdliche Tüftler Riquet die Genehmigung zum Bau des Kanals. 14 Jahre lang schufteten mehr als 10.000 Arbeiter, sieben Millionen Kubikmeter Erde mussten abgetragen werden, um eine Rinne von 16 bis 19 Meter Breite und zwei Meter Tiefe zu schaufeln. Mit seinen 65 Schleusen und 55 Aquädukten, einem Tunnel und 126 Brücken war der Kanal weit ins 19. Jahrhundert hinein der wichtigste Handelsweg Südfrankreichs. Doch die Frachtschiffe verschwanden, und der Kanal versank in Vergessenheit. In den 1970er-Jahren erwachte er aus dem Dornröschenschlaf. Durch den Bootstourismus entwickelte sich wieder neues Leben auf und an dem Kanal.

Für Hobbykapitäne ist der Kanal ein Paradies. Riquet ließ die Uferböschungen mit 45.000 Platanen bepflanzen. Sie sehen nicht nur wunderschön aus, sondern bilden mit ihrem Blätterdach auch einen hervorragenden Schutz gegen die Sonne. Die prächtigsten Bootsstrecken führen durch die Départements Aude und Hérault. Castelnaudary ist da ein perfekter Startpunkt. Die Welthauptstadt des Cassoulet muss man einfach gesehen haben. Der köstliche Bohneneintopf wurde während des Hundertjährigen Krieges von den hungernden Einwohnern Castelnaudarys erfunden. Heute wird er in allerlei Varianten serviert, mit Schweineschwarten, Lamm oder Enten-Confit. Derart gestärkt geht es im „Grand Bassin“ an Bord. Ein Bootsführerschein ist nicht vonnöten, nach kurzer Einweisung heißt es „Leinen los!“. Schon bald kann man mit dem Hausboot umgehen, als habe man schon immer Planken unter den Füßen gehabt.

So ein schwimmendes Ferienhäuschen ist eine nostalgisch-entspannte Alternative zum Massentourismus. „Raser“ gibt es auf der Wasserstrecke nicht. Die Hausboote, die „Pénichettes“, dürfen auf dem Canal du Midi nicht schneller als sechs Stundenkilometer fahren. Zu starke Wellen würden die Festigkeit der Uferböschung gefährden. An Komfort an Bord herrscht auch kein Mangel, viele Pénichettes haben Ölheizung, CD-Spieler und Stromanschluss für Mobiltelefon-Ladegeräte an Bord. Im Schritttempo durch den Canal du Midi zu reisen, das ist, als würde man sich einfach treiben lassen. Durch Alleen, Wiesen und Wälder, vorbei an Rebhängen, Schlössern, Kirchen und Klöstern. Und mit dem Fahrrad an Bord kann man jederzeit auf Einkaufs- und Entdeckungstour gehen.

Gleich bei der Ausfahrt aus Castelnaudary wartet die gigantische Vierfach-Schleuse von Saint-Roche. Das ist eine Art überdimensionaler Aufzug, der die Boote dem Mittelmeer zehn Höhenmeter entgegenträgt. Die 52 Türme von Carcassonne sind schon von Weitem auszumachen. Unter einer blumenbewachsenen Brücke fahren Sie in den Sportboothafen, vertäuen Ihr Boot und nehmen den kostenfreien Pendelbus in die Altstadt. Als Walt Disney Carcassonne besuchte, war er von der mittelalterlichen Stadt derart begeistert, dass er sie als Vorlage für seinen Film „Schneewittchen“ nahm. So pittoresk schaut die Stadt auch heute noch aus. Wer Bücher liebt, sollte von Carcassonne aus einen Ausflug nach Montolieu einplanen. Der Buchbinder Michel Braibant hat das an den Ausläufern der Montagne Noire gelegene Dorf in ein Mekka für bibliophile Zeitgenossen verwandelt. Seit 1989 haben sich im „Bücherdorf“ zwölf Antiquariate, Buchbindereien, Graveure, eine Papiermühle und ein Büchercafé angesiedelt.

In Trèbes mit seinen bunten Fensterläden lockt die Kirche Saint Étienne. Der Glockenturm stammt aus dem 13. Jahrhundert und ist über 40 Meter hoch. Noch spektakulärer ist das Innere: Hunderte von Raben, aus dunklem Eichenholz geschnitzt, schmücken das Dachgebälk. Die Schnitzereien aus dem 14. Jahrhundert wurden erst 1977 entdeckt, als während einer Hochzeitsfeier der darunter eingezogene Dachstuhl einstürzte.

Einen ganz besonderen Zauber atmet auch Le Somail. Das Kanal-Örtchen war schon von alters her ein Versorgungsstützpunkt. Übrig geblieben sind heute eine Brücke und viel Leben drum herum, der Weinhändler, mehrere Restaurants und ein Laden an Bord eines Schiffs. In Capestang sollten die Stiftskirche und das Schloss aus dem 15. Jahrhundert besichtigt werden. Mittwochs und sonntags ist hier Wochenmarkt – ideal für neuen Bordproviant.

In Fonsérannes bei Béziers wartet dann ein besonderes Highlight, die siebenfache Schleusentreppe, die größte in Frankreich. Schleuser ist übrigens ein begehrter Ferienjob in Frankreich. Junge Leute können sich auf diese Art bei prächtigem Wetter an der frischen Luft ein gutes Taschengeld verdienen. Viele Schleusenwärter haben noch ein kleines Nebengeschäft, bieten Honig, Obst, Gemüse und Marmelade zum Kauf an. Mann sollte ruhig zugreifen, denn all die hausgemachten Sachen schmecken wirklich wunderbar.

Die Bootsfahrt entpuppt sich zugleich als Gourmet-Tour

Überhaupt: das Essen. In den meisten Dörfern und Städtchen am Canal du Midi locken bunte Märkte mit den herrlichsten Produkten. An Bord eine Gänseleberpastete mit frischem Baguette verputzen und dabei langsam durch eine Landschaft voller Weinreben gleiten – das kommt dem Paradies auf Erden schon ein wenig nah. Bootsurlauber können aber auch ebenso gut wie preisgünstig in den vielen kleinen Restaurants am Wasserweg speisen.

Die nächste Station, Béziers – „la capitale du vin“, erweist sich als weltoffen und lebendig. Ein bisschen hat man auch das Gefühl, sich Spanien zu nähern, das nur 121 Kilometer weiter südlich liegt. Wenn es um Stierkämpfe geht, wird das „Sevilla Frankreichs“ höchstens von Nîmes und von Arles übertroffen, was die Zahl der corridas angeht. Dabei ist die Atmosphäre in Béziers so entspannt und so südfranzösisch, wie es die Provence schon lange nicht mehr ist. Nicht verpassen: Mitten in der Altstadt an einer steilen Gasse liegt das kleine Lokal Au Cep d’Or, berühmt für seine Fische und Meeresfrüchte. Himmlisch mundet die Schokolade vom Maison Caratiér in der Avenue Jean Moulin. Sogar den Kanal-Erbauer Riquet gibt es hier als Schoko-Skulptur.

Auf dem Kanal weichen Pappeln und Buchenhaine den Zypressen, der Horizont flimmert in der Hitze, dazu das nicht enden wollende Konzert der Zikaden – kein Zweifel, das Mittelmeer ruft! Beim Leuchtturm von Onglous wird der Canal du Midi verlassen und der Étang de Thau geentert. Der große Salzwassersee ist gesäumt von vielen hübschen Fischerhäfen und einladenden Fischrestaurants. Der Hafen von Marseillan bildet den Endpunkt der Reise mit der Pénichette. Der Abschied fällt dem Kapitän und seiner Besatzung sicherlich schwer. Aber ein wenig Trost bietet die malerische Altstadt mit ihren Gassen, in denen es auch im Sommer schattig und kühl ist. Es gibt prächtige Restaurants mit superfrischen Meeresfrüchten. Schließlich ist das Mittelmeer gerade mal vier Kilometer entfernt.