Elisabeth Leonskaja spielt Prokofjew

Vom großen Seelenkenner Fjodor Dostojewski stammt die wohl bündigste Definition der menschlichen Natur, er legte sie dem ältesten der „Brüder Karamasow“ in den Mund: „Breit ist der Mensch, sogar allzu breit, ich hätte ihn enger gemacht.“ Leidensfähigkeit und wodkaselige Sentimentalität, Heroik und Niedertracht liegen in der Natur dieses Mitja Karamasow so eng beieinander, dass er sich selbst ein Rätsel bleibt. Dostojewskis Formel von der allzu breiten Menschennatur aber führt wie ein roter Faden durch die große Kunst der Epoche, die nach ihm kam.

Bei Sergej Prokofjew etwa lagen Verletzlichkeit und Arroganz, zutiefst romantisches Empfinden und spöttische Distanz eng beieinander. Vom seelischen Klima, in dem der junge Prokofjew sich bewegte, zeugt eine Postkarte seines Jugendfreundes Maximilian Schmidthof vom Mai 1913: „Lieber Serjoscha, ich schreibe, um Dir die jüngsten Neuigkeiten zu berichten – ich habe mich erschossen. Nimm’s nicht so tragisch, in Wahrheit habe ich es nicht anders verdient. Lebwohl. Max“ Prokofjew wollten den Freitod des geliebten Freundes nicht wahrhaben, er reiste sogar nach Finnland, wo die Karte abgeschickt worden war, und zeigte dort dessen Foto herum. Erst als die Leiche des jungen Mannes gefunden wurde, fügte er sich der bitteren Wahrheit.

Zurück in St. Petersburg widmete Prokofjew dem Freund sein bis dato ambitioniertestes Werk: das Zweite Klavierkonzert. Als er das ebenso brillante wie vielschichtige Stück im September 1913 uraufführte, raste das Publikum vor Empörung: „Zum Teufel mit der futuristischen Musik. Die Katzen auf dem Dach machen bessere Musik.“ Prokofjew verbeugte sich, als würde er bejubelt – und spielte eine Zugabe. In dieser halb sarkastischen, halb aristokratischen Geste, die zugleich seine Verletzlichkeit verbirgt, ist Prokofjews ganzes Wesen zu lesen.

Um durch solche seelischen Labyrinthe zu navigieren, bedarf es Interpreten, die mit dieser Gefühlskultur vertraut sind. Mit der Grande Dame der russischen Klavierschule, Elisabeth Leonskaja, und dem Grandseigneur der russischen Dirigenten, Dmitrij Kitajenko, haben die Philharmoniker Hamburg das ideale Interpretenduo.

Schostakowitschs Sechste Sinfonie, die neben dem Klavierkonzert und Strawinskys „Feuervogel“ auf dem Programm steht, stellt ihrer „allzu breiten“ Natur wegen bis heute selbst viele Bewunderer vor Rätsel. In drei extrem ungleichen Sätzen durchmisst Schostakowitsch hier die Spanne vom Tief-Grüblerischen über hektische Ausgelassenheit bis zu fast schon trivial-populärem Frohsinn. Ein Kritiker der Uraufführung rätselte denn auch über diesen „sonderbaren Rumpf ohne Kopf“. Vielleicht wird ja der Schostakowitsch-Experte Kitajenko das Rätsel lösen.

„Russische Schule“ 26.1., 11.00, 27.1., 20.00, Laeiszhalle. Tickets zu 10,- bis 48,- unter T. 356868