Die Universität Hamburg besitzt 18 Wissenschaftliche Sammlungen. Viele von ihnen sind jedoch öffentlich nicht zugänglich. Am 2. November, in der Nacht des Wissens, werden sich alle im Ostflügel des Hauptgebäudes präsentieren. Angela Grosse gibt einen EinblickAngela Grosse

Wer Superman und Batman sehen möchte, muss die Gipsabguss-Sammlung des Archäologischen Instituts besuchen. Zwischen 173 Abgüssen stehen dort zwei griechische Figuren, Aristogeiton und Harmodios. Sie dienten dem Künstler Karel Novosad 1973 als Vorbild für die Gestaltung zweier Comicfiguren, die er für die Internationale Gartenbau-Ausstellung anfertigte.

Wer die Geschichte der bezaubernden Orchideen, die vermögende Hamburger Bürger und Kaufleute schon im 19. Jahrhundert wegen ihrer exotischen Ausstrahlung sehr gern in ihre Gärten pflanzten, ergründen will, findet Antworten im Herbarium Hamburgense. In Deutschlands viertgrößter Sammlung lagern zwischen 1,8 Millionen Pflanzen aus aller Welt auch 10.000 Orchideen. Die älteste, eine Wendelähre, stammt aus dem Jahr 1790 und wuchs wohl im Bereich des heutigen St. Pauli. Wer den größten deutschen Meeressaurier, der bislang überhaupt ausgegraben worden ist, sehen will, könnte Elasmosaurus im Geologisch-Paläontologischen Museum bewundern. Doch noch wartet der etwa zwölf Meter lange, schlanke Gigant der Urwelt darauf, zusammengesetzt zu werden. Es fehlt an Geld; das will die Universität Hamburg ändern. Auf Dinosaurier aus Hamburg hingegen wartet man vergeblich – zur Blütezeit der Saurier, vor rund 100 Millionen Jahren, lag Hamburg 200 Meter unter dem Meeresspiegel.

Wissenschaftliche Schätze aus drei von insgesamt 18 Sammlungen, die die Universität Hamburg besitzt. In der Nacht des Wissens, am 2. November, werden sich alle im Ostflügel des Hauptgebäudes der Universität präsentieren. Eine seltene Chance, denn viele Sammlungen sind öffentlich nicht zugänglich (s. Kasten). Dabei sind es diese Schätze, die die Mannigfaltigkeit der Erde und des Lebens auf und in ihr begreifbar, erlebbar, ergründbar machen. Wissenschaftliche Sammlungen sind ein Hort der Vielfalt – in einer Welt, die zum Einheitsbrei zu werden droht.

„Wir zerstören unseren kulturellen Reichtum um des Einheitlichen, leicht zu Fassenden willen. Wir zerstören gleichzeitig den biologischen Reichtum, und tatsächlich könnte beides ein Aspekt ein und desselben Vorganges sein. Wir tauschen das Einzigartige gegen das Beliebige“, warnt Marcel Robischon in seinem Buch „Vom Verstummen der Welt“. Und in der Tat, in den Sammlungen und Museen finden sich noch Einzigartigkeiten, die in Ruhe betrachtet werden können. „Wir entscheiden, was wir wie betrachten. Kein Filmemacher gibt uns die Sichtweise vor. Jeder, der eine Sammlung oder ein Museum betritt, kann alle Objekte selber erkunden, sich selbst ein Bild machen“, sagt Prof. Angelika Brandt vom Zoologischen Museum. Es sei doch ein deutlicher Unterschied, ob ich einen Bären im Fernsehen sehe oder plötzlich vor einem fast drei Meter großen Tier stehe. „Erst dann werden einem die Dimensionen klar“, ergänzt Daniel Bein, Museumspädagoge. Er ist immer wieder fasziniert von der Begeisterung der Kinder und Jugendlichen, deren Erkundungstouren er begleitet. Doch es sind nicht nur die Kinder, die überrascht feststellen, wie groß Bären sind und wie zart Schmetterlinge. Auch für Erwachsene und (junge) Wissenschaftler sind Sammlungen ein Hort von unerwarteten Entdeckungen, in ihnen schlummert revolutionäres Potenzial.

Wissenschaftliche Sammlungen fegten sicher geglaubte Erkenntnisse über die Antike hinweg. So ist in Hollywood-Filmen Athen immer eine Stadt ganz in Weiß. „Das Bild entstand, weil alle dachten, die klassische Antike sei in weißem Marmor gehauen. Auch unsere Gipsabguss-Sammlung hat zu diesem Bild beigetragen und jeder, der daran zweifelte, wurde ausgelacht. Doch das Bild ist falsch, ein Trugschluss“, sagt Dr. Leon Ziemer vom Archäologischen Institut. „Weil Archäologen antiken Marmor vor der Vernichtung bewahrt hatten, entdeckten Kollegen mit modernen Methoden wie UV-Fluoreszenz daran Farbreste. Plötzlich war Athen farbig.“ Wäre der Marmor nicht real vorhanden, sondern nur digital gespeichert gewesen, diese wissenschaftliche Revolution hätte nicht stattgefunden. Und auch mancher Täter käme ungeschoren davon, wenn im Institut für Rechtsmedizin nicht Asservate aufbewahrt würden. Nicht erst seit „Navy CIS“ wissen alle, dass sich aus alten Beweisstücken mit modernen Methoden ganz neue Beweise ableiten lassen. „Egal welche wissenschaftliche Sammlung, jede ermöglicht zukünftigen Forschern, neue Antworten zu finden, weil ihnen neue Methoden, die Exponate zu erschließen, zur Verfügung stehen werden. Wer beispielsweise einen Blick in die Sammlungen des Zentrums für Geschichte der Naturwissenschaft und Technik wirft, sieht die Veränderungen, die sich auch in der Erforschung der (Sozial-)Geschichte vollzogen haben. Wir sammeln also für die Welt von morgen, auch das macht den Wert von Sammlungen aus“, sagt Prof. Rosemarie Mielke, die die Zentralstelle für die Sammlungen leitet.

Ein eindrucksvolles Beispiel ist die Mikroalgen-Sammlung des Botanischen Instituts. Mehr als 550 Arten werden hier am Leben erhalten, und das nicht nur, um die wissenschaftliche Neugier zu befriedigen. Sie dienen auch dazu, neue Wege in der Energietechnik zu beschreiten. Mikroalgen atmen das Treibhausgas CO2 ein, nutzen es als Nährstoff für ihr Wachstum und verwandeln es in energiereiche Biomasse. Damit sind sie ideale Helfer, um Treibhausgas zu vernichten und den begehrten Rohstoff Biomasse ohne endlose Monokulturen zu erzeugen. Scheinbar exotische Forschung liefert so Lösungen für technische Fragen und gesellschaftliche Herausforderungen. In Hamburg-Reitbrook baute E.on Hanse bereits eine Mikroalgen-Pilotanlage. Das ist nicht der einzige Bereich, wo Grundlagenforschung Techniker inspiriert. Physiker weltweit würden gern die Fähigkeiten von meerblauen Mineralien aus einer Kupfer-Mine in der Atacama-Wüste in Chile nutzen. Prof. Jochen Schlüter vom Mineralogischen Museum und Kollegen haben sie untersucht und als neuartige Kristalle klassifiziert. Diese Kristalle könnten den Weg zu einer neuen Physik ebnen, zu neuen Supraleitern und Quantencomputern.

Wissenschaftliche Sammlungen öffnen aber nicht nur Fenster in die Zukunft, „sie geben auch die Möglichkeit, sich in eine andere Welt zu versenken“, sagt Dr. Antje Zare, Kuratorin des Medizinhistorischen Museums, das Ende Oktober in Hamburg eröffnet wird. Und in der Tat: Wer einen Blick in ein Krankenzimmer um 1900 wirft, trifft auf eine andere Welt und ist vielleicht ganz glücklich, heute zu leben. Im Mineralogischen Museum eröffnen Himmelsboten vom Mars und Mondstaub den Blick auf eine ganz und gar fremde Welt, die die 30.000 Fotoplatten der Hamburger Sternwarte vom Himmel über Hamburg (1911–1990) uns näherzubringen versuchen. Das Loki-Schmidt-Haus präsentiert Nutzpflanzen zum Anfassen, manche kamen mit der Kolonialisierung nach Hamburg. Die typischen Hamburger Wurzeln sind bis heute bei allen wissenschaftlichen Sammlungen der Universität erkennbar, aber oft noch nicht freigelegt. „Wir wollen die Sammlungen auch unter diesem Aspekt auswerten“, sagt Prof. Mielke.

Die wissenschaftlichen Sammlungen in Hamburg sind – anders als in älteren Universitätsstädten – nicht durch die Sammelleidenschaft von Fürsten entstanden. Vielmehr sind die Hamburger Sammlungen, die vielfach älter sind als die erst 1919 gegründete Universität, zunächst vor allem von wissbegierigen Bürgern und Bürgerinnen dieser Stadt, von Kaufleuten und Reedern zusammengetragen worden.

Entstanden sind Sammlungen, in denen viel Überraschendes steckt. „Deshalb wäre es sehr schön“, sagt Prof. Mielke, „wenn wir noch mehr Sammlungen öffnen könnten.“ Am 2. November sind zumindest einige der Exponate auch aus den Sammlungen zu sehen, die sonst nur Wissenschaftlern und Studierenden zugänglich sind.