Ernst Ludwig Kirchner in einer umfassenden Schau

In Hamburg galt Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938) lange als der wichtigste Brücke-Künstler. Allenfalls Karl Schmidt-Rottluff war ihm an Popularität und Anerkennung ebenbürtig. Neben den Direktoren der Kunsthalle Gustav Pauli (1914-1933), später Carl Georg Heise (1945-1955), zählte zur Riege der Kirchner-Förderer ebenso Gustav Schiefler, Hamburger Landgerichtsdirektor und Sammler. Schließlich sorgte auch der junge Kirchner mit einem längeren Aufenthalt in Hamburg 1910 für Präsenz in der Hansestadt.

Eine Einzelausstellung Kirchners, heute einer der wichtigsten deutschen Vertreter der Klassischen Moderne, hat es in der Hamburger Kunsthalle noch nicht gegeben. Gründe genug für die Kunsthalle, eine Kirchner-Schau aus eigenen Beständen, erweitert um zahlreiche Leihgaben aus Museen und Privatbesitz, im Hubertus-Wald-Forum zu präsentieren. Schlicht "Kirchner" heißt die Ausstellung, deren Exponate sich auf die wichtigsten Schaffenszeiten des Malers konzentrieren: die Dresdner und Berliner Jahre 1906 bis 1913/14 sowie die frühe Davoser Zeit von 1919 bis 1921. Ziel ist es, den Kirchner jenseits des Klischees vom spontanen, wie im Rausch arbeitenden Künstler zu präsentieren. 80 Arbeiten auf Papier, Zeichnungen und Druckgrafiken werden zusammen mit 15 Gemälden sowie Fotografien Kirchners in Werkgruppen präsentiert. Eine Wiederentdeckung markieren großformatige Zeichnungen aus den Jahren 1906 bis 1910. Wahrscheinlich durch seinen Vater, Papierchemiker in Aschaffenburg, konnte Kirchner diese Formate bis zur Größe von 60 mal 90 Zentimeter beziehen, die er später auch rückseitig mit Zeichnungen versah. In der Schau werden sie nun erstmals doppelseitig präsentiert.

Ausgestellt werden unter anderem die frühen "Kokotten im Café" (1908) sowie mehrere Rückseiten mit Akten seiner Freundin Erna und ihrer Schwester Gerda Schilling. Im Kontext mit dem Gemälde "Paar im Zimmer" (1912) erhellt sich Kirchners Vorgehensweise, die Zeichnungen bereits als eigenständige Bildkompositionen zu gestalten. Auch die weiteren Stationen der "Kirchner"-Schau steuern dem Klischee eines von Grenzerfahrungen getriebenen Künstlers entgegen.

Kirchners Zeichnungen auf Fehmarn bei und nahe Staberhuk, seine Fotografien des Meeressaums zusammen mit einem Gemälde der Inselküste zeigen, wie sich der Künstler peu à peu an die Eliminierung räumlicher Perspektive macht. Die Tiefe des Raumes beginnt er in dynamisch-bewegte Flächen-Arrangements zu verwandeln.

Andere Zeichnungen, etwa zwei Porträts mit Erna vor Strand oder Düne, dienen ihm dazu, beide Hintergründe im Gemälde zu vereinen. An Fehmarn liebte Kirchner die Ursprünglichkeit der Natur - die Insel bedeutete ihm seine Südsee des Nordens. Ähnlich empfand er später die Berglandschaft bei Davos, wo er sich zwischen 1918 und 1921 im Sommer auf der Stafelalp in einer Hütte einquartierte. In den Bildern der Alpen, im Leben der Bauern oder der selbstgenügsamen Allgegenwärtigkeit der Kühe erkundet er erneut die ihn umgebende Landschaft. Frühe Akte, eine Gruppe von Selbstbildnissen sowie Beispiele der Berliner Straßenszenen liefern weitere Schwerpunkte. Ausgespart bleibt seine späte, experimentell flächig und geglättete Schaffensphase. Das von einem Gedicht Richard Dehmels inspirierte Gemälde "Paar vor den Menschen" - ein Geschenk an den ehemaligen Direktor des Museums für Kunst und Gewerbe, Max Sauerlandt, 1930 - ist gemeinsam mit thematisch verwandten Werken zu sehen.

In den Seitenkabinetten wird erstmals ausführlich Kirchners Verhältnis zu Hamburg beleuchtet, mit Motiven wie der Petri-Kirche. Außerdem ist ein Porträt des Mäzens Gustav Schiefler zu sehen, dessen Zustandekommen vom schwierigen Charakter des Künstlers erzählt. Aus einem Doppelporträt des Ehepaars Schiefler hatte Kirchner den weiblichen Part eliminiert. Er glaubte, ein Restaurantbesuch des Ehepaars sei eine Reaktion auf seine eigene spärliche Küche. Dabei war der Grund für das schnelle Mahl in Wirklichkeit wohl die Diabetes Schieflers. Künstler eben. Die Ausstellung wird ermöglicht durch die Hubertus-Wald-Stiftung.

Kirchner 7.10.2010 bis 16.1.2011, Hamburger Kunsthalle, Hubertus-Wald-Forum, Glockengießerwall, Di-So 10.00-18.00, Do 10.00-21.00