Die Türme der Hauptkirchen machen Hamburg unverwechselbar. Sie verleihen dem Stadtbild Kontur, sind Zeugnisse der Geschichte und geben nicht nur Christen Identität. Ein Plädoyer zum Erhalt der Kirchen-Silhouette

Von Südosten nähert sich der ICE dem Hauptbahnhof, verlangsamt sein Tempo, überquert die Elbbrücken und dann kommt der Moment, in dem sich das Panorama von Stadt und Hafen eröffnet. Es ist ein vertrauter Anblick, der wohl gerade deshalb viele Bewohner dieser Stadt immer wieder aufs Neue anrührt, ihnen das Gefühl gibt, anzukommen, wieder zu Hause zu sein. Wasser und Schiffe, das filigrane Gewirr von Kränen und Gebirge aus bunten Containern, dahinter aber hoch aufragend St. Katharinen, St. Jacobi, St. Petri, der Turm der zerstörten Nikolaikirche, dazu der Rathausturm, und natürlich der Michel. Die Türme der Hauptkirchen machen Hamburg unverwechselbar, geben dem Stadtbild Kontur, ragen aus der Masse der Häuser heraus und gliedern die Silhouette. Wie Ausrufezeichen stehen die steinernen Vertikalen in der Weite des norddeutschen Himmels. Sie sind Zeugnisse der Geschichte, architektonische Denkmäler, Teil eines in Jahrhunderten gewachsenen urbanen Gesamtkunstwerks, aber auch weithin sichtbare Hinweise darauf, dass diese große, moderne und sich rasant verändernde Stadt kein gottverlassener Ort ist, sondern seit vielen Jahrhunderten Heimat von christlichen Gemeinden, die sich treffen, beten, singen, Gottesdienste feiern.

Aber was bedeutet das für eine Stadt, in der immer weniger Christen leben? Welche Berechtigung hat die Dominanz von Kirchtürmen in einer Gesellschaft, die einerseits immer säkularer und andererseits immer multireligiöser wird?

"Ich höre eine Sehnsucht nach Gemeinschaft und Solidarität, nach Lebendigkeit und Wahrhaftigkeit. Dafür stehen die Türme in der Silhouette Hamburgs. Unabhängig von Konfessionsgrenzen sprechen die Hauptkirchen eine eigene Sprache. Sie zeigen, was uns seit Jahrhunderten heilig ist und immer sein wird. Sie erinnern daran, dass die Menschen dieser Stadt eine Weggemeinschaft sind, eingebunden in ein größeres Ganzes. Und sie geben uns einen Ort des Rückzugs und der Besinnung", sagt Kirsten Fehrs, Hauptpastorin an St. Jacobi und Pröpstin..

Neben den Kirchtürmen prägen aber längst auch andere Bauwerke die Stadtsilhouette: seit 1897 der Rathausturm, seit 1968 der Heinrich-Hertz-Turm, aber auch einige hohe Gebäude wie das 1973 eröffnete und 108 Meter hohe Hotelhochhaus am Dammtor.

Die Stadt entwickelt sich und in ihrer architektonischen Erscheinung spiegelt sich der Zustand der Gesellschaft. Im Mittelalter waren die Dinge klar. Da gab es den Mariendom, der auf die Gründungszeit der Stadt zurückgeht, im 12. Jahrhundert aber als Backsteinbau mit dreischiffiger Halle erneuert wurde. Und als die Bevölkerung im 13. Jahrhundert stark anwuchs, bauten sich die Bürger nach und nach zunächst vier eigene Kirche: St. Petri, St. Nikolai, St. Katharinen und St. Jacobi. Das waren stattliche Bauten mit Türmen, die hoch in den Himmel ragten und von den Seefahrern, die mit ihren Schiffen den Hafen ansteuerten, als weithin sichtbare Landmarken genutzt wurden.

In diesen mächtigen Backsteinbauten fand nicht nur Gottesfurcht seinen Ausdruck, sondern auch hanseatischer Bürgerstolz. Da ging es auch keineswegs still und andächtig zu, sondern oft auch lebhaft und laut. Hier spielte sich städtisches Leben ab. An den zahlreichen Seitenaltären lasen Priester Messen, während Kinder durch die Gänge rannten und Kaufleute über Geschäfte sprachen. Die Kirchen einer Stadt mussten damals so groß sein, dass alle Einwohner darin Platz finden konnten.

Als Hamburg Anfang des 17. Jahrhunderts nach Westen hin erweitert wurde, war es klar, dass diese Neustadt eine eigene Kirche brauchte, was schließlich zum Bau von St. Michaelis führte, die später zur fünften Hauptkirche wurde.

Hinter den Mauern der Kirchen fanden die Menschen Schutz in Kriegen und Trost in Krisen. Hier beteten sie, ließen ihre Kinder taufen, sich trauen, hier fanden Trauerfeiern statt: Die Kirchen waren die Schnittstellen, mit denen sich die individuelle Existenz mit dem Leben der Gemeinschaft verband. Am 10. März 1750 schlug dann ein Blitz in den Turm der Michaeliskirche ein - die Kirche brannte ab. Für die Hamburger war es selbstverständlich, dass die Kirche bald darauf wieder aufgebaut werden musste. Damals entstand der großartige barocke Zentralraum mit dem klassizistischen Turm von Ernst Georg Sonnin, der zu Hamburgs wichtigstem Wahrzeichen wurde.

Bei diesem markanten Gebäude, das schon vom weitem zu erkennen ist, wird besonders deutlich, dass es nicht nur für Christen identitätsstiftend wirkt, sondern für die allermeisten Menschen, die in dieser Stadt leben, selbst wenn sie den Michel niemals von innen gesehen haben. Als er am 3. Juli 1906 durch einen Brand zerstört worden war, beschloss die Bürgerschaft sofort, die Kirche wiederherzustellen. Schon einen Tag nach der Katastrophe trat das Hamburger Parlament zusammen, um den Wiederaufbau zu beschließen. Unter dem Beifall der Abgeordneten sagte der damalige Bürgerschaftspräsident Julius Engel: "Die Michaeliskirche muss da, wo sie gestanden hat und so, wie sie gestanden hat, sobald wie möglich neu errichtet werden, damit der mächtige, die Stadt überragende Turm auch künftigen Geschlechtern wieder als Wahrzeichen der Stadt erscheine."

Genau das ist der Michel 100 Jahre später auch für Andrea Titze. Als Personalreferentin bei dem Versicherungsunternehmen Deutscher Ring sieht sie von ihrem Büro aus täglich auf den Prachtbau. "Ein sehr exklusiver Arbeitsplatz mit diesem wundervollen Ausblick", sagt die 52-Jährige. Für Andrea Titze ist er, "das Herz der Stadt. Deshalb war ich auch ärgerlich, als vor zehn Jahren das KPMG-Gebäude an der Ludwig-Erhard-Straße entstand, das nun den Blick auf den Michel gleich aus mehreren Richtungen verstellt".

Ein klares Bekenntnis für oder gegen eine Kirche - das ist für Hamburger typisch. So waren es beim Wiederaufbau des Michels nicht nur die Christen, sondern die gewählten Vertreter der Bürger, die eine zerstörte Kirche unbedingt wiederhaben wollten.

100 Jahre zuvor hatte es in Hamburg aber auch das Gegenteil gegeben, nämlich den bürgerlichen Willen, eine Kirche möglichst schnell und für immer loszuwerden. Als 1803 die geistlichen Fürstentümer aufgelöst wurden, ließ man den Dom, damals Hamburgs bedeutendstes Baudenkmal, kurzerhand abreißen. Denkmalschutz gab es noch nicht. Für die Mitglieder des Hamburger Rats standen andere Dinge im Vordergrund. Beim Anblick des Doms, damals nahe der St.-Petri-Kirche, fühlten sie sich auf unangenehme Weise daran erinnert, dass es mitten in der Stadt einen Bereich gab, der sich aus historischen Gründen ihrem unmittelbaren Einfluss entzog.

Zu den Hamburger Merkwürdigkeiten gehört, dass sich der Begriff Dom heute nur noch mit dem Jahrmarkt verbindet, der ursprünglich rings um die Domkirche veranstaltet wurde und nun dreimal im Jahr auf dem Heiligengeistfeld stattfindet. Erst 1890-93 erhielten Hamburgs katholische Christen erstmals seit der Reformation wieder die Gelegenheit, innerhalb der Stadt eine Kirche zu bauen. Die damals in St. Georg entstandene neoromanische Backsteinkirche wurde 1995 nach der Neugründung des Erzbistums Hamburg zur Kathedrale erhoben und trägt nun den Namen Domkirche St. Marien.

"Um den St. Mariendom gibt es keine Mauern, er ist offen für alle Menschen in dem multikulturellen und lebendigen Stadtteil St. Georg. Viele Bewohner aus dem Viertel und Touristen kommen den ganzen Tag über hierher und finden in dem großen Raum innere Ruhe, auch wenn sie nicht zur Domgemeinde gehören und vielleicht nicht einmal Christen sind", meint Andreas Herzig, der im Erzbistum Hamburg für die Medienarbeit zuständig ist.

Die Domkirche, in deren unmittelbaren Nachbarschaft sich auch kirchliche Verwaltungsstellen, die Domschule, ein Kindergarten, die Caritas und das Tagungszentrum St. Ansgar-Haus befinden, hat sich längst zu einem geistigen Zentrum entwickelt, das in die ganze Stadt ausstrahlt. "Gleich nach der Neugründung des Erzbistums gab es hier 1995 und zum Katholikentag im Jahr 2000 das Fest der Völker, 2006 haben wir mit vielen Menschen aus dem Viertel die WM gefeiert und im Herbst des vergangenen Jahres hat NDR-Fernsehkoch Rainer Sass zur 'Nacht der Kirchen' für Hunderte Menschen, die vor dem Mariendom an Hamburgs längster weiße Tafel saßen, das norddeutsche Gericht 'Himmel und Erde' gekocht", sagt Herzig. Er hält "Himmel und Erde" für ein gutes Motto: "Die beiden 64 Meter hohen Türme weisen in den Himmel, aber der Mariendom ist zugleich geerdet und dicht bei den Menschen."

Während der St. Mariendom nun eine unverrückbare Größe in der Hansestadt ist, verschwanden im Laufe der Geschichte jedoch immer wieder Kirchen aus dem Hamburger Stadtbild. Beim Großen Brand, der vom 5. bis zum 8. Mai 1842 in der Stadt wütete, wurden gleich mehrere Gotteshäuser zerstört, darunter St. Nikolai, St. Petri und die Gertrudenkapelle, ein bedeutender Zentralbau mit geschwungenem Dach aus dem 16. Jahrhundert. Während die Gertrudenkapelle für immer verloren ging, wurden die beiden Hauptkirchen wieder aufgebaut. Der Neubau der Nikolaikirche gehörte sogar zu den spektakulärsten Kirchenbauprojekten des 19. Jahrhunderts. Der Londoner Architekt John Gilbert Scott errichtete bis 1863 ein gewaltiges Bauwerk in gotischen Formen.

Bei seiner Vollendung im Jahr 1874 war der 147,3 Meter hohe Nikolaikirchturm für einige Jahre das höchste Bauwerk der Welt. Stilistisch war der spitze, durchbrochene und reich geschmückte Turmhelm ein Fremdkörper in der Hamburger Turmlandschaft, doch die Menschen werden das kaum so empfunden haben. Sie waren stolz auf dieses großartige Bauwerk und Hamburgs höchster Turm wurde schon bald ganz selbstverständlich Bestandteil der Silhouette der Stadt. Es gehört zur bitteren Ironie der Geschichte, dass es ausgerechnet englische Bomben waren, die die von Gilbert Scott errichtete Nikolaikirche am 28. Juli 1943 zerstörten. Das 28 Meter hohe Dach stürzte ein und die Wände bekamen Risse, der Turm jedoch blieb weitgehend unbeschädigt erhalten. Eigentlich wäre es möglich gewesen, St. Nikolai wieder herzustellen. In der Nachkriegszeit entschied man anders. Da auch die umliegende Wohnbebauung zerstört worden war, hatte St. Nikokai seine Gemeinde verloren.

Die alten Wohnhäuser wurden überwiegend durch Büro- und Geschäftsbauten ersetzt, deshalb lebten nur noch wenige Menschen in der Nähe des Hopfenmarktes, am Rödingsmarkt, am Großen Burstah und den umliegenden Straßen. Also entschloss man sich, St. Nikolai zwar wieder aufzubauen, aber nicht mehr in den alten Formen und nicht mehr am alten Standort, sondern da, wo es Menschen gab, die eine Gemeinde bilden konnten: 1960 bis 1962 baute Gerhard Langmaack, der zu den profiliertesten Kirchenbaumeistern der Nachkriegszeit gehörte, eine neue Hauptkirche in Harvestehude am Klosterstern. Mit ihrem schlanken, sich zu einer Nadelspitze verjüngenden Turm setzt sie einen neuen, aber im Vergleich zum alten Nikolaikirchturm behutsamen Akzent in der Stadtsilhouette.

In den 50er- und 60er-Jahren gab es nicht wenige Stimmen, die für den Abriss der Ruine der alten Nikolaikirche und auch ihres intakten Turms plädierten. Der Historismus des 19. Jahrhunderts galt als minderwertig, Kirchen aus dieser Zeit empfanden viele Menschen damals oft als geschmackliche Zumutung.

Sie sehnten sich stattdessen nach den klaren schmucklosen und konstruktiven Formen des Internationalen Stils. Man wünschte sich Wolkenkratzer, und in den Zeitungen wurden städtebauliche Entwürfe vorgestellt, in denen Hamburg geradezu futuristisch anmutete. Schon zur Fertigstellung der aus heutiger Sicht nicht einmal besonders hohen Grindelhochhäuser war von "Hamburgs Manhattan" die Rede.

Aber dann kam es doch ganz anders. Obwohl sich Hamburg von den 50er- bis zu den 70er-Jahren extrem wandelte, indem zum Beispiel mit der Ost-West-Straße radikal in die gewachsene Stadtstruktur eingegriffen wurde, blieben die Türme der Hauptkirchen in ihrer wahrzeichenhaften Wirkung unangetastet. Allerdings gab es von Seiten der Stadt zunächst kein wirkliches Konzept zur Nutzung der Ruine St. Nikolai als Mahnmal - bis sich eine Handvoll engagierter Bürger ihr annahm.

"Wir wollten aus diesem verwundeten Bauwerk einen Ort gegen Krieg und Unrecht und für Völkerverständigung machen. Der Turm ist doch wie ein Zeigefinger Gottes", sagt Manuela Rousseau, Leiterin der Corporate Social Responsibilty-Abteilung bei Beiersdorf. Sie gehört neben dem Kaufmann Ivar Buterfas zu den Gründungsmitgliedern des Förderkreises "Rettet die Nikolaikirche" (seit 1988).

Mit vielen kreativen Ideen und großer Medienaufmerksamkeit gelang es dem Förderkreis, St. Nikolai zu einem viel besuchtes Mahnmal für die Opfer von Krieg und Gewalt im Zweiten Weltkrieg zu machen. Dazu gehört heute ein Dokumentationszentrum und ein gläserner Panoramalift im Inneren des Turmes, der zu einer Plattform in 76 Meter Höhe fährt.

Immer wieder gab es kleine Veränderungen an den Kirchen. So bekam St. Jacobi 1963 einen modernen kupfernen Turmhelm. Dennoch blieben Hamburgs Kirchtürme das, was sie seit Jahrhunderten waren und sind: Bauten, die ins Augen fallen und im Sinn bleiben. Gebäude, die vertraut sind und Identität vermitteln, die an die Geschichte dieser Stadt erinnern, über den Einzelnen hinausweisen, Sinnbilder der Gemeinschaft sind.

Für viele Hamburger ist es die Gemeinschaft zwischen Menschen, für Hamburgs Christen ist es darüber hinaus die Gemeinschaft mit Gott. Wer die Kirchen im Stadtbild betrachtet, kann zu ganz unterschiedlichen Assoziationen kommen, aber immer lädt die Begegnung mit diesen himmelwärts gewandten Bauten dazu ein, einen Moment lang inne zu halten, sich unserer Geschichte und Herkunft, des eigenen Existenz und Identität zu besinnen und darüber nachzudenken, worin der Sinn unseres Handelns besteht.

Hamburgs Kirchen sind mitten im Getriebe der Großstadt verankert - und zugleich doch so etwas wie exterritoriales Gebiet.