Berlin. Für das Autodesign der 50er-Jahre erfand die US-Presse den Begriff High Technology. Selbst Kleinwagen mit Atomreaktor schienen möglich.

Endlich ging es rasant aufwärts. Vor 60 Jahren war die Nachkriegstristesse vorbei, das Wirtschaftswunder gab den Takt vor, und erste bezahlbare Volksautos vermittelten den Europäern ein bis dahin ungekanntes Freiheitsgefühl.

Den Forschern und Technikern schien plötzlich alles möglich, versinnbildlicht durch futuristische Dreamcars mit Atomantrieb und das neue Wahrzeichen von Brüssel: Unter dem Atomium präsentierte die Weltausstellung 1958 die wundersamen Entwicklungen des Atomzeitalters, für Kinder gab es sogar Mini-Kernkraftwerke zum Selberbauen.

Ungeachtet erster Proteste wurde die Kernspaltung gefeiert als unerschöpf­licher Energieträger, wie in jenem Jahr das atomar angetriebene U-Boot Nautilus mit einer Nordpol-Unterquerung demonstrierte. Dazu passten auch der fantastisch anmutende Ford Nucleon, der mit Kernreaktor und Kernbrennstoff eine Reichweite von 8000 Kilometern versprach oder die Cityflitzer Atom und Atomata – vorgestellt auf dem Automobilsalon unter dem Atomium.

Die US-Presse erfand den Begriff High Technology

Doch Brüssel vereinte noch mehr automobile Technologien der Moderne: Turbinen, Kreiskolbenantriebe, Kunststoffkarosserien, Downsizing-Motoren und Designtrends, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte. Fast schien es, als würde das Auto neu erfunden. Weshalb die amerikanische Presse für die westeuropäische Ingenieurskunst des Atomzeitalters einen neuen Begriff prägte: High Technology.

Unter der Kurzform „Hightech“ wurde fortan alles zusammengefasst, was die Forschung an technischen Pionierleistungen präsentierte. Und das war speziell im Automobilbereich um 1960 mehr als je zuvor – auch wenn mancher Geniestreich sternschnuppengleich verglühte.

Warum nicht ein VW-Käfer mit Bordreaktor?

Der Renault Étoile Filante mit Turbinenantrieb von 1954.
Der Renault Étoile Filante mit Turbinenantrieb von 1954. © Renault | Renault

So strahlte die amerikanische Atom-Euphorie zwar bis nach Europa, wo zum Beispiel Simca den ­Fulgur für Brennstäbe vorsah und der norwegische VW-Importeur an einen Käfer mit Bordreaktor dachte. Aber die Risiken der Kernenergie beschränkten deren Nutzung dann doch auf Atomkraftwerke, die bis heute Strom für batteriebetriebene Fahrzeuge liefern.

Freie Fahrt für freie Bürger, dieses Credo verkörperten Ende der 50er die in vielen europäischen Ländern gebauten Autobahnen. Am Himmel überflügelten Jetliner alle Passagierschiffe im Transatlantikverkehr, warum also nicht die Turbinentriebwerke auf die Straße bringen? Rover versuchte dies mit den Modellen Jet 1 bis Jet 4, blieb ­allerdings im Experimentalstadium stecken. Anderen, wie dem 309 km/h schnellen Renault Etoile Filante („Sternschnuppe“) mit Gasturbine, gelang es wenigstens, Temporekorde zu setzen.

Chrysler-Coupé mit Turbinenantrieb

Nur Chrysler baute ein Turbinen-Coupé, das tatsächlich von 203 Testkunden erprobt wurde. Dann aber endete auch das Chrysler-Hightech-Programm, denn der Energieverbrauch der Turbine blieb zu hoch.

Wirklich erfolgreich transferierte dagegen 1958 der Flugzeugbauer Subaru aeronautische Konstruktionsprinzipien in den Automobilbau, als der winzige Subaru 360 dank cleverer Leichtbautechniken als erstes japanisches Kei-Car in Massenproduktion ging. Auch das Thema Sicherheit kam nun aus der Luftfahrt auf die Straße.

Ein Flug­zeugingenieur erfand den Dreipunktgurt

So musste der Su­baru 360 als erstes asiatisches Automobil Crashtests absolvieren. Noch bahnbrechender war die Erfindung des Flug­zeugingenieurs Nils Bohlin. Volvo-Chef Gunnar Engellau hatte ihn bei Saab abgeworben, damit Bohlin den bei Saab und Volvo verfügbaren Zweipunkt-Sicherheitsgurt optimieren konnte.

Bohlin ergänzte den Gurt um einen dritten Befestigungspunkt, was den Riemen bis heute zum wichtigsten Lebensretter im Straßenverkehr macht. Mehr als eine Million Menschen verdanken diesem seit 1959 in Volvo-Modellen serienmäßigen und seit den 70er-Jahren global vorgeschriebenen Feature ihr Überleben.

Schneller, schöner, sparsamer

Autos schneller, schöner und sparsamer machen, das ist die Mission der Kunststoffe, ohne die im Karosseriebau kaum noch etwas geht. Sind heute Karbon- und Kompositmaterialien gefragt, waren es vor 60 Jahren chemische Produkte in Form von Fiberglas für Sportwagen und Phenoplast für den Trabant, die die Tür in ein neues Zeitalter öffneten.

Der DDR-Volkswagen Trabant P50 beziehungsweise 500 erhielt eine Skelettkarosserie aus Stahlblech, deren Beplankung aus baumwollverstärktem Phenoplast bestand. Hightech bedeutete nach damaligem Verständnis eben vor allem technische Kreativität, und durch Phenoplast konnte der Trabant-Hersteller teuren Stahl sparen.

Fehlschläge bestärkten den Erfindungsgeist

Manchmal wird der menschliche Erfindungsgeist durch Fehlschläge sogar bestärkt: zu beobachten bei frühen Glasfiber-Karossen, die zu Rissen und Farbveränderungen neigten. So ließ sich Lotus-Gründer Colin Chapman durch Defizite am Fiberglas-Monocoque seines Racers Elan nicht beirren, konnte er doch von diesem Innovationsträger ab 1958 rund 1000 Einheiten an Fans verkaufen, denen Rennsiege wichtiger waren als eine robuste Konstruktion. Und beim späteren Lotus Europa verklebte er die Kunststoff-Karosserie einfach mit dem Zentralträger-Chassis.

Auch der Franzose Jean Rédélé verwendete Kunststoff für seine Alpine-Sportwagen, um Gewicht zu sparen. Im Jahre 1958 überraschte er mit dem Alpine A108 Coupé: ein agiler Grand Tourisme mit neuartigen, hinter Glas liegenden Scheinwerfern, der die Franzosen ähnlich euphorisierte wie es Porsche in Deutschland gelang.

Der Hubkolbenmotor war nicht zu ersetzen

Die anfänglich unüberwindbar scheinenden Dichtleistenprobleme des vor 60 Jahren vorgestellten Wankel­motors hielten sowohl die Kleinwagenmarke NSU als auch ihren japanischen Lizenznehmer Mazda nicht davon ab, den Kreiskolbenmotor standfest zu machen.

Es war ein Duell, an dessen Ende beide die Nase vorn hatten, wie der NSU Wankel Spider als erstes Einscheiben- und der Mazda Cosmo Sport als erstes Zweischeiben-Rotationsmotormodell bewiesen. Nur ein Kalkül ging nicht auf: Trotz zwei Millionen verkaufter Kreiskolbentriebwerke war der Hubkolbenmotor nicht zu ersetzen.

Chrom, Panoramascheiben und Heckflossen aus den USA

Nicht nur technisch gelten die späten 50er-Jahre als eine der kreativsten Epochen der Automobilgeschichte – ­selten wurde auch in Mode und Design derart viel experimentiert und neu gedacht. So war es möglich, dass damals drei Trends gleichzeitig en vogue waren: Aus Ame­rika schwappte eine Welle chromglitzernder Straßenkreuzer mit Panoramascheiben-Design nach Europa.

Ein Hype, der auch die europäischen Hersteller erfasste und einen Zenit erreichte, als nicht weniger als 55 Marken von Alfa bis Volvo den Traum von der schöneren Aussicht auf Landschaft und Weltraum wahr machen wollten.

Gigantischen Heckflossen erinnern an Raketen

Dazu passten die raketenähnlichen Designelemente, die an den gigantischen Heckflossen des US-Modelljahres 1959 zu finden waren. Insignien des Space Age, die in der Alten Welt adaptiert wurden. Sogar italienische Starcouturiers wie Pininfarina begeisterten sich für Finnen und integrierten diese in einen dritten Trend, die elegante Trapezform.

Was Pininfarina zuerst für Lancia entwarf, kleidete bald über 100 Modelle, vom kleinen Trabant über den populären Peugeot 404 bis zur Mercedes S-Klasse. Das Rad wurde 1958 nicht neu erfunden, aber fast alles andere.