Wer wegen Alkohols am Steuer den Führerschein verliert, muss immer höhere Hürden nehmen, um die Fahrerlaubnis wiederzubekommen.

Hamburg. Heute hat die Dienstagsgruppe was zu feiern. Denn Claudia* hat am Vormittag die MPU bestanden, die Medizinisch-Psychologische Untersuchung, und das heißt: In spätestens zwei Wochen darf sie wieder ans Steuer ihres Audi A3. Fast ein Jahr hat das Auto auf dem Bürgersteig vor ihrer Wohnung in Barmbek nutzlos herumgestanden, weil die etwas pummelige Claudia an ihrem 27. Geburtstag vor gut einem Jahr mit 1,74 Promille Alkoholgehalt im Blut in eine nächtliche Verkehrskontrolle geraten war. Der Wert langte fürs Komplettpaket: Verlust des Führerscheins, Geldstrafe, elf Monate Fahrverbot, Teilnahme an der MPU. Jetzt klopfen die anderen Beifall auf dem großen Konferenztisch, und Claudia lächelt verlegen, aber glücklich. Die Bürokauffrau hat sich für ihren großen Tag mit einem rosafarbenen Blazer und schwarzen Leggings schick gemacht.

Sie wirkt solide und brav, beinahe bieder und keineswegs wie eine, die sich regelmäßig volllaufen lässt, um dann als tickende Zeitbombe sich und andere Verkehrsteilnehmer zu gefährden. "Claudia hat wohl tatsächlich ein wenig Pech gehabt", wird Jürgen Dröge später zerknirscht erzählen. "Bei ihr gab es null Komma null Anzeichen für Alkoholmissbrauch oder eine Abhängigkeit, aber das ist bei einem solch hohen Blutalkoholwert eigentlich eher selten."

Jürgen, 51 Jahre alt - hier ist man per Du -, fungiert beim Bund alkoholfrei lebender Kraftfahrer (BAK) seit Jahren ehrenamtlich als Zweiter Vorsitzender und leitet mehrmals pro Woche eine solche Gruppe, deren Mitglieder nur einen Wunsch haben: Sie wollen schnellstens ihren Lappen zurück, den man ihnen zumeist wegen Alkohols oder Drogen oder beidem am Steuer weggenommen hat. So unterschiedlich ihre Herkunft und ihre Lebensumstände auch sind - eines haben sie alle gemeinsam: Als sie aus dem Verkehr gezogen wurden, waren ihre Blutwerte so hoch, dass sie, ohne eine MPU zu bestehen, nicht wieder Auto fahren dürfen. Oder sie sind Wiederholungstäter. Oder abhängig und gehörten eigentlich in eine Therapie.

105 000 Deutsche mussten letztes Jahr den "Idiotentest" machen

Jürgen weiß aus eigener Erfahrung um die entscheidenden Unterschiede: "Die Claudia konnte nicht mal mehr aussteigen, vom Verlust der Muttersprache mal ganz abgesehen. Sie hatte aber einfach nicht gewusst, was sie tat. Andere steuern dagegen mit weit über zwei Promille und mehr ihr Auto, und sogar die Polizei wundert sich, wie sicher die gefahren sind." Jürgen lässt offen, ob er von sich selbst erzählt. Aber beim Bund alkoholfrei lebender Kraftfahrer in der Repsolstraße, gleich neben dem "Drob inn"-Drogenberatungszentrum am ZOB, ist es nun mal üblich, dass die Gruppenleiter über ausreichend Selbsterfahrung verfügen.

Rund 105 000 Menschen bundesweit, davon gut 2500 Hamburger, standen letztes Jahr vor der Hürde MPU, im Volksmund auch "Idiotentest" genannt, 60 000 von ihnen wegen Alkohols, 18 000 wegen Drogen am Steuer. Das geltende Recht lässt so gut wie keine Spielräume und wird rigoros angewandt. Ab 1,6 Promille (bei Wiederholungstätern genügen zweimal 0,5 Promille binnen 15 Jahren) müssen Verkehrssünder sofort zur MPU. Neuerdings werden sogar junge Fahrschüler auf THC-Werte im Blut kontrolliert.

Claudia lässt beim Bericht über ihre Prüfung kein Detail aus. Wie aufgeregt sie anfangs war. Wie sie die Reaktions- und Leistungstests dann doch mit Bravour bestanden habe. Und wie das entscheidende 50-minütige Gespräch mit dem Verkehrspsychologen verlaufen ist. Die Hälfte der 14-köpfigen Gruppe verfolgt Claudias Erzählungen aufmerksam. Was diese erfolgreich absolviert hat, haben die anderen noch vor sich. Die andere Hälfte der Gruppe kämpft mit Müdigkeit und ist unübersehbar gelangweilt. Dazu gehört vor allem "seine" dreiköpfige "Kokserfraktion". So scherzt Jürgen mit den drei Männern im Alter von 23 bis 46 Jahren, die Claudia genau gegenübersitzen.

Jederzeit kann das Labor anrufen und eine Urinprobe verlangen

Mehzud*, der Älteste des Trios, der nach eigenen Angaben in einem Bramfelder Imbiss arbeitet, ist Türke. Er spielt ständig an einer mächtigen Breitling-Uhr herum, überprüft den Glanz seiner spitzen, schwarzen Halbschuhe oder lässt unter seinem hautengen Kaschmirpulli mit V-Ausschnitt ab und zu gedankenverloren eine ausgebildete Brustmuskulatur zucken. Mehzud ist schon zum zweiten Mal Gast beim BAK. "Im Grunde", meint er lässig, "brauche ich ja gar keinen Führerschein. Wenn ich irgendwo hinmuss, fährt jemand von der Familie. Aber ich habe einen Oldtimer in der Garage, und der ist jetzt fertig gebastelt."

Claas-Hendrik*, ein Student der Literaturwissenschaften, wischt sich seine schwarz gefärbten Rastalocken aus der Stirn und blickt kurz hoch. Das ist sein erstes Lebenszeichen seit einer halben Stunde. Der Blick signalisiert klar: Warum muss ich mir dieses Gequatsche anhören? Claas-Hendrik ist 22. Er war an einem Sonntagvormittag mit Freunden im Volvo-Kombi seines Vaters auf dem Heimweg von einer Party in Husum, als er von einer Zivilstreife auf der Autobahn angehalten wurde. Vielleicht weil sie zu fünft in einem Auto saßen, das irgendwie nicht zu Rastalocken passte? "Ich hatte gedacht, acht Stunden würden reichen, um das THC abzubauen", erzählt er, "aber nicht mal mehr aufs Internet kannst du dich verlassen." THC steht für Tetrahydrocannabinol und ist der Hauptwirkstoff der Hanfpflanze. Der Stoff sei wohl ziemlich gut gewesen, sagt Claas-Hendrik und zuckt verlegen die Schulter. Vor ihm liegen noch fünf Monate Zwangsabstinenz. Kein Joint, und auch Alkohol ist strikt verboten. Jeden Tag kann der Anruf einer Laborärztin kommen. Dann muss er alles stehen und liegen lassen und unter Aufsicht eine Urinprobe abgeben. Wie ein Olympiasportler, der unangemeldet auf Doping kontrolliert wird.

Gruppenleiter Jürgen nickt. Er weiß ziemlich genau, wer von den anwesenden Kursusteilnehmern tatsächlich was in seinem Leben oder auch nur im Trinkverhalten ändern will. Und wer das nur vollmundig vorgibt, bloß um den Lappen wiederzukriegen. Aber er hält sich bedeckt. "Im Internet steht praktisch nur Mist drin", bestätigt er den Eindruck des Studenten. "THC kann nämlich auch noch nach fünf Tagen nachgewiesen werden. Es kommt immer auf die Dosis an und wie häufig man raucht. Und auch dass man angeblich immer noch mit einem EU-Führerschein in Deutschland fahren darf: Das ist schon lange vorbei. Wenn man erwischt wird, ist das eine Straftat ..."

In einem Büro neben dem Seminarraum streckt sich Holger Heidecke entspannt auf seinem Schreibtischstuhl aus. "Wenn ich früher nicht gesoffen hätte, würde ich heute nicht hier sitzen", sagt er. Der drahtige 52 Jahre alte Verkehrs- und Sozialtherapeut macht wie Jürgen nebenan keinen Hehl daraus, dass er selbst mal Alki war. Das macht ihn glaubwürdiger. Außerdem könnten ihm seine Klienten deswegen auch nur selten was vormachen, meint er. Er findet in der Regel schnell heraus, ob sie nur Missbrauch oder schweren Missbrauch betreiben oder ob sie abhängig sind. Daran orientiert sich auch der Inhalt der Einzelgespräche, die er anbietet. Er arbeitet seit 2002 selbstständig und hat an den BAK angedockt. Hier bereitet er die Delinquenten auf die MPU vor, die manche für die schwerste Prüfung in ihrem Leben halten. Dafür setzt er zwischen sechs und acht Einzelstunden an, die Stunde zu 60 Euro. Geringverdiener zahlen 40 Euro, aber das ist erheblich billiger als privat beim diplomierten Psychologen.

Was wem droht

"Die meisten sind nach dem Verlust des Führerscheins erst mal in einer Art Schockstarre. Ich versuche dann, sie darauf zu bringen, dass sie diesen Hammer als Chance begreifen, in ihrem Leben was zu ändern." Heidecke sieht sich jedoch nicht in der Rolle eines selbst ernannten Messias, der die Welt trockenlegen will. "Wenn ein 21-Jähriger dem Gutachter mit treuherzigen Augen erklärt, dass er nie wieder was trinken oder rauchen möchte, fühlt der sich doch verarscht." Bei der MPU komme es vielmehr nur auf vier Dinge an: "Die Psychologen wollen immer wissen, ob man seine Vergangenheit in Bezug auf Alkohol und Drogen aufgearbeitet hat. Zweitens, wie sich der persönliche Umgang damit verändert hat, und drittens, wie man in Zukunft damit umgehen wird. Und das, Punkt vier, sollte man möglichst authentisch rüberbringen."

Heike*, 38, ist einer seiner Problemfälle. Die alleinerziehende Mutter und Wiederholungstäterin versucht bereits seit dreieinhalb Jahren erfolglos, ihren Führerschein wiederzuerlangen, auf den sie beruflich angewiesen ist, weil sie als Sekretärin in einer niedersächsischen Firma auf dem Lande arbeitet. Dorthin fährt kein Bus. Dreimal sei sie schon durch die MPU gerasselt, erzählt sie, dabei sei sie das letzte Mal, als sie "auf abstinent" gemacht hatte, schon fast durch gewesen. Dummerweise waren jedoch vier Tage zuvor die Bestimmungen verschärft worden: Sie musste plötzlich zum Beweis ihrer Drogen- und Alkoholabstinenz eine Haarprobe zulassen. Und die hat sie entlarvt. Also fährt sie weiterhin ohne Führerschein. "Sonst müsste ich doch Hartz IV beantragen", flüstert sie, "wie soll ich denn davon leben?" Im nächsten Februar darf sie zu ihrer vierten MPU antreten. Seit drei Monaten lebe sie tatsächlich abstinent. Und es gehe ihr sogar besser damit. "Ich hoffe, dass mir dieser Kursus hier was bringt, denn lange halten meine Nerven das nicht mehr aus."

Georg*, ein 30 Jahre alter Russlanddeutscher, der bereits vor fünf Jahren seinen uralten BMW im Drogenrausch an einer Leitplanke verschrottet hatte, muss jetzt ein Jahr lang wieder komplette Abstinenz nachweisen und erneut eine MPU durchlaufen, sonst würde er den Personenbeförderungsschein nicht erhalten. Dabei hat er seinen Führerschein längst wieder, alle anderen Prüfungen bereits bestanden und das gebrauchte Taxi auch schon gekauft.

Der mühsame Weg zurück hinters Steuer kostet: Alles in allem muss man mit gut 1000 Euro Gebühren für so eine Medizinisch-Psychologische Untersuchung in einer der fünf in Hamburg zugelassenen Stellen (AVUS, BAD, PIMA, TüV Nord und Dekra) rechnen. Hinzu kommen die Geldstrafe, die Verfahrenskosten und die Gebühren des Landesverkehrsbetriebs, der die neue Fahrerlaubnis erteilt, wenn die MPU bestanden ist. "Wenn du deine Vorbereitung nicht beim TüV Nord machst und zahlst, besteht du beim TüV Nord auch nicht", sagt Mehzud, "das sind doch alles Abzocker."

Bis zu 90 Prozent Rückfallquote bei den Teilzeitabstinenzlern

Holger Heidecke zuckt die Schulter. In der Regel, meint er, werde ziemlich gerecht geprüft, ganz egal, welche Organisation für die MPU verantwortlich ist. "Aber aus unseren Erfahrungen wissen wir natürlich genau, wer bei welcher Firma nur gut oder viel leicht besser aufgehoben ist", lächelt er und schweigt ansonsten eisern über dieses kostbare Betriebsgeheimnis. Er schätzt, dass trotz allem die Dunkelziffer der Teilzeitabstinenzler, die rückfällig werden, etwa 90 Prozent beträgt. Von zehn seiner Kunden sieht er durchschnittlich zwei nach etwa einem Dreivierteljahr wieder, weil sie abermals erwischt wurden. Die intensive Jagd der Polizei auf Alkohol- und Drogensünder hat in den vergangenen Jahren mit dazu beigetragen, die Zahl der Toten und Verletzten im Straßenverkehr noch weiter zu senken. Darüber hinaus, so meinen Experten, sei auch die gesellschaftliche Akzeptanz von Trunkenheitsfahrten gesunken. Dies habe zu einem anderen Umgang mit Alkohol und Drogen im Verkehr geführt. Allein der Personalabbau bei der Polizei verhindere eine noch engmaschigere Verkehrsüberwachung.

Im Seminarraum ist der Gruppenabend nach 80 Minuten beinahe vorüber. 15 solcher Sitzungen finden allein beim BAK pro Woche statt, 2005 waren es nur fünf. Jürgen erteilt Claudia noch mal das Wort. Danach fühlt sie sich, als habe sie zum zweiten Mal ihre MPU bestanden, endlich, auch wenn das schriftliche Gutachten noch aussteht. "Aber der Prüfer hat schon durchblicken lassen, dass ich durch bin", strahlt Claudia, für die es kein nächstes Mal geben soll. Sie trinke nun wirklich nicht mehr - aber nur, um abzunehmen.

*Namen geändert