Berlin. Bergsteigen kann süchtig machen, sagt Katharina Hüfner. Die Neurologin erklärt, was ein krankhaftes Verlangen nach dem Kick ausmacht.

Glücksgefühle am Gipfel? Schön und gut, aber es gibt auch beim Bergsteigen ein „Zuviel“. Neurologin Katharina Hüfner erklärt, warum Bergsteigen süchtig machen kann und woran man ein krankhaftes Sportverhalten erkennen kann.

Frau Hüfner, muss ich mir Sorgen machen, wenn ich gerne und viel in den Bergen Wandern gehe?

Katharina Hüfner: Ich kann Sie beruhigen: Wandern und auch das von uns untersuchte Bergsteigen sind für die körperliche und psychische Gesundheit sehr förderlich. Was wir untersucht haben, sind Menschen, die wirklich sehr viel in die Berge gehen und deren Leben gleichsam ums Bergsteigen kreist und darum, möglichst viele Gipfel zu besteigen, eventuell sogar jeden Tag. Menschen, die den Drang fühlen, ständig solche Erlebnisse zu sammeln und die sogar Entzugserscheinungen haben, wenn sie dem nicht nachgeben können.

Was haben Sie festgestellt?

Selbst begeisterte Bergsportlerin: Neurologin Katharina Hüfner.
Selbst begeisterte Bergsportlerin: Neurologin Katharina Hüfner. © MUI/D. Bullock | MUI/D. Bullock

Hüfner: Wir haben tatsächlich herausgefunden, dass bei 88 der befragten 335 regelmäßigen und Extrem-Bergsteiger Anzeichen eines Suchtverhaltens vorliegt. Ja, es gibt Bergsucht wirklich! Das Leben dieser Menschen ist so stark auf die Aktivität fokussiert, dass sie andere Lebensbereiche vernachlässigen. Mehr als 70 Prozent der Bergsüchtigen geht an mindestens drei Tagen in der Woche bergsteigen, etwa 24 Prozent gehen sogar fünf Tage die Woche an den Berg. Aber es geht nicht allein um die Häufigkeit. Bei diesen Personen zeigen sich auch andere Kriterien von Suchterkrankungen wie eine stetige Steigerung der Dosis, um ihren inneren Drang zu stillen. Sie reduzieren das Bergsteigen auch nicht, wenn äußere Umstände wie Verletzungen oder schlechte Bedingungen dies nahelegen würden. Die Sucht geht mit erhöhten Werten beim „sensation seeking“ einher, also der Suche nach dem stärkeren Kick, aber auch bei der Bereitschaft, Risiken einzugehen und sich bewusst Gefahren auszusetzen.

Bergsucht klingt wie eine Krankheit, dabei ist es doch gesund sich in der Bergnatur zu bewegen?

Hüfner: Was wir beschreiben, sind tatsächlich Symptome, die einer psychischen Erkrankung ähneln. Es geht hier nicht um Gesundheitsaspekte, sondern um das Suchtverhalten, das beherrschende Streben, möglichst viele Gipfel erreichen zu wollen. Es geht immer um die Dosis. Schließlich ist nicht jeder, der gerne mal ein Bier trinkt, auch Alkoholiker. Um bei dem bekannten Bild zu bleiben: Wenn der Berg ruft, ist es auch mal okay mit „Nein!“ zu antworten. Doch als begeisterter Bergsportlerin ist es mir sehr wichtig, darauf hinzuweisen, dass Outdooraktivitäten – insbesondere auch in alpiner Umgebung – grundsätzlich einen sehr positiven Effekt auf Körper und Psyche haben.

Wie haben Sie die Studie angelegt?

Hüfner: Wir haben an der Medizinischen Universität Innsbruck mit Beteiligung der Technischen Universität München eine Onlinestudie unter regelmäßigen und Extrem-Bergsteigern durchgeführt. Die 335 Teilnehmer aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und Italien haben wir primär über die Alpenvereine erreicht. Dazu verwendeten wir Fragebögen, die in ähnlicher Form auch für andere verhaltensgebundene Süchte eingesetzt werden.

Welche Auffälligkeiten sind Ihnen im Rahmen der Studie begegnet?

Hüfner: Die Gruppe der „Bergsüchtigen“ wies auch signifikant höhere Werte beim persönlichen Stressempfinden auf, bei Symptomen von Angsterkrankungen und Depressionen, bei Essstörungen, und anderen Suchterkrankungen wie Alkohol- oder Drogenabhängigkeit.

Das widerspricht dem gängigen Image des Bergsteigers.

Hüfner: Richtig, das vorherrschende Bild des gesunden, starken Bergsteigers trifft nicht immer zu. Es hat uns auch erstaunt, wie viele der Personen mit Hinweisen auf „Bergsucht“ auch diese Symptome von anderen psychischen Erkrankungen aufweisen. Es ist aber auch möglich, dass Bergsteiger und Bergsteigerinnen mit einer Depression oder Alkoholabhängigkeit das Bergsteigen als eine Art „Eigentherapie“ nutzen. Vielleicht nutzen sie die positiven Effekte des Bergsteigens auf die Stimmung und das körperliche Befinden, und schießen dabei manchmal übers Ziel hinaus. Wir haben gesehen, dass „Bergsüchtige“ noch mehr als andere Bergsteiger in dieser Aktivität einen Sinn für ihr Leben suchen. Sie genießen es, autonom zu sein, selbst Entscheidungen zu treffen, ein hohes Maß an Selbstkontrolle zu haben und sich dadurch psychisch stabiler zu fühlen. Von einem Gipfel aus betrachtet sind die Probleme im Tal einfach ein wenig kleiner.

Woran erkenne ich, dass eine Bergpassion krankhaft zu werden droht?

Hüfner: Anzeichen für Suchtverhalten sind immer Konflikte mit der Familie oder Freunden, die das Ausmaß des Bergsteigens kritisieren. Zum Beispiel, wenn der Bergsteiger seinen Partner, seine Kinder oder die Arbeit ständig vernachlässigt, weil er einfach jede freie Minute zum Bergsteigen nutzen will. Man sollte auch stutzig werden, wenn man trotz Krankheit oder Verletzung dem Drang nach dem nächsten Kick durch ein Gipfelerlebnis nachgibt, also seine eigene Gesundheit aufs Spiel setzt. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich liebe die Berge und das Bergsteigen, die Bewegung in der Natur gehört zum Gesündesten, was Menschen für sich selbst tun können. Aber gerade dadurch, dass Bergsteigen eine so einzigartige und erfüllende Aktivität ist, birgt es eben auch ein Suchtpotenzial: man will dieses Glücksgefühl einfach immer wieder erleben.

Dieser Text erschien zuerst auf morgenpost.de.