Berlin. Lange hat die kardiologische Forschung die weibliche Perspektive vernachlässigt. Mit üblen Folgen, wie der aktuelle Herzbericht zeigt.

Es gibt keine männlichen und weiblichen Herzen. Vier Kammern, vier Klappen, einen Rhythmusgeber, all das haben Männer wie Frauen gemeinsam. Dennoch gibt es gravierende Unterschiede zwischen den Geschlechtern im Zusammenhang mit verschiedenen Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems, die in der Forschung lange Zeit keine Beachtung fanden. Und auch heute steht die Wissenschaft noch am Anfang einer Ursachensuche.

Der aktuelle Herzbericht 2018, der am Donnerstag in Berlin vorgestellt wurde, illustriert die Unterschiede mit Zahlen. So sind trotz sinkender Sterblichkeit Herz-Kreislauf-Erkrankungen noch immer Todesursache Nummer eins in Deutschland.

Dabei halten sich Männer und Frauen bei der Sterblichkeit mit 48,1 zu 51,9 Prozent ungefähr die Waage. Doch es gibt Herzerkrankungen, an denen Frauen weitaus häufiger sterben als Männer, und umgekehrt.

Frauen leiden öfter unter Herzschwäche als Männer

So starben 2016 zum Beispiel wesentlich mehr Männer durch einen akuten Herzinfarkt, doch bei anderen Diagnosen war die Sterblichkeit der Frauen deutlich höher: An Herzrhythmusstörungen starben rund 16.000 Frauen gegenüber rund 10.700 Männern, an Herzschwäche rund 25.300 Frauen gegenüber rund 15.000 Männern.

Auch die Herzberichte der vergangenen Jahre zeigten ähnliche Zahlen. Die Unterschiede seien unerwartet groß und nicht ohne Weiteres erklärlich, heißt es in dem aktuellen Bericht, der von der Deutschen Herzstiftung in Zusammenarbeit mit den ärztlichen Fachgesellschaften für Kardiologie, Herzchirurgie und Kinderkardiologie herausgegeben wird.

Lange Zeit nur mit männlichen Versuchstieren gearbeitet

Eine der wenigen Forscherinnen in Deutschland, die sich mit der Geschlechterthematik im Zusammenhang mit Herzerkrankungen beschäftigt, ist Professorin Vera Regitz-Zagrosek. Die Kardiologin leitet an der Charité das Institut für Geschlechterforschung in der Medizin. „Es gibt tatsächlich große Unterschiede bei den Erkrankungen zwischen Männern und Frauen, die von der Forschung ziemlich vernachlässigt und unterbewertet werden“, sagt sie.

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    Die gängige Meinung, dass Herzerkrankungen vor allem ein Problem der Männer sind, sei schlicht falsch, sagt auch der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK), Professor Hugo Katus: „Sieht man sich die Statistik an, erkennt man: Männer sterben am häufigsten an bösartigen Tumoren, Frauen an Herzerkrankungen.“

    Zwar ist die höhere Sterblichkeit auch darauf zurückzuführen, dass Frauen älter werden als Männer und dann an den Krankheiten des hohen Alters sterben, doch „selbst junge Frauen sterben häufiger an einer Herzerkrankung als an Brustkrebs“, sagt der Kardiologe. Insgesamt sei jede dritte Frau von einer Herzerkrankung betroffen.

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    So hat man zum Beispiel eine stressbedingte Herzerkrankung, das sogenannte Broken-Heart-Syndrom, das sich wie ein Herzinfarkt äußern kann, lange Zeit für eine sehr seltene Erkrankung gehalten. Dann fanden Forscher jedoch heraus, dass diese Erkrankung bis zu acht Prozent der Notfallaufnahmen bei Frauen ausmacht, und schließlich, dass überhaupt zu 90 Prozent Frauen betroffen sind.

    „Man weiß wenig zu den Mechanismen dieser Erkrankung, weil das Standard-Tiermodell bei dieser Erkrankung die männliche Ratte ist“, sagt Regitz-Zagrosek. Das sei ein grundsätzliches Problem: „Wir haben in der Medizin die Tendenz, als Prototyp für den Menschen ein männliches Lebewesen zu sehen.“

    Katus bestätigt das. Lange Zeit sei experimentelle Forschung meist von männlichen Wissenschaftlern ausschließlich an männlichen Versuchstieren gemacht worden. „Und in klinischen Studien ging es dann weiter. Dort waren weniger als 30 Prozent der Patienten weiblich“, sagt der Kardiologe. So orientierten sich Krankheitserforschung und Medikamentenentwicklung hauptsächlich am männlichen Organismus.

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      Männer und Frauen sind nicht komplett gleich

      Dabei unterscheidet sich der Organismus von Männern und Frauen. „Zwar sind die großen Prinzipien gleich“, sagt Regitz-Zagrosek. „Aber auf zellulärer Ebene oder in der Feinstruktur gibt es erhebliche Unterschiede.“

      So entwickeln Männer etwa zehn Jahre vor den Frauen eine Arteriosklerose, die Hauptursache für die Entstehung von Erkrankungen der Herzkranzgefäße (koronare Herzkrankheit). Frauen sind dagegen höchstwahrscheinlich bis zu den Wechseljahren durch das Geschlechtshormon Östrogen geschützt.

      Dafür haben Forscher aber erst jetzt erkannt, dass Frauen andere Arten der koronaren Herzerkrankung entwickeln, die nicht in erster Linie auf Arteriosklerose zurückzuführen sind. „Das ist schlecht untersucht und verstanden, und entsprechend gibt es keine guten Richtlinien zur Behandlung“, sagt Regitz-Zagrosek.

      US-Forscher fordern mehr Frauen in klinischen Studien

      Die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie schließt sich aus diesem Grund einer aktuellen Empfehlung der US-amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA an, die mehr weibliche Versuchstiere und mehr Frauen in klinischen Studien fordert. Eine Änderung, von der beide Geschlechter profitieren würden, wie ein aktuelles Beispiel aus der Wissenschaft zeigt.

      So haben Forscher herausgefunden, dass weibliche Mäuse nach einem Herzinfarkt besser vor lebensbedrohlichen Rhythmusstörungen geschützt sind als die Männchen. Daraufhin untersuchten die Forscher die Mechanismen dahinter und entwickeln derzeit ein Medikament aus dem Schutzfaktor der Frauen.

      Hormonhaushalt beeinflusst Herzgesundheit

      Dieser Schutzfaktor ergebe sich auch aus dem Hormonhaushalt der Frau, erklärt Regitz-Zagrosek: „Grundsätzlich wirken Hormone in sämtlichen Körperzellen und greifen in den Stoffwechsel ein.“ Dabei geht es vor allem um Östrogen und Testosteron, das beide Geschlechter in unterschiedlicher Menge produzieren.

      Das sorgt dafür, dass eine bestimmte Fettsäure bei Männern anders verstoffwechselt wird als bei Frauen. Die Fettsäuren können dann wieder Herzrhythmusstörungen beeinflussen. „Das sind Netzwerke, die häufig mehr als hundert Mitglieder haben“, sagt Regitz-Zagrosek, „und so ein Netzwerk wird von Östrogen anders aktiviert als von Testosteron.“

      Ein Blick auf die Geschlechterunterschiede sei sehr wichtig, sagt auch der Berliner Kardiologe und Präsident der Herzstiftung, Professor Dietrich Andresen. „Es gibt einen immensen Forschungsbedarf, damit wir die Versorgung besser personalisieren können.“