Madrid. Die meisten Spanien-Touristen zog es bisher vor allem nach Barcelona. Doch die Hauptstadt Madrid holt mit außergewöhnlichen Ideen auf.

Da ist ein Graffiti auf der Tür von einem dieser typischen „Estancos“, wo man Tabak bekommt, Lotteriescheine und was man so braucht. Eine junge Frau in Kapuzenpullover und modisch zerrissener Hose schaut hinaus auf die Straße ihres Viertels. Sie hat eine Hand vors Gesicht geschlagen, so als wäre sie erstaunt.

Vielleicht darüber, dass sie als eines von wenigen Street-Art-Bildern hier im Malasaña-Viertel noch nicht übersprüht wurde. Vielleicht aber auch darüber, wie sehr sich alles verändert hat rundherum in den vergangenen Jahren. Wie aus einem heruntergekommenen Drogen-Prostituierten-Klau-Loch ein angesagter Ausgehstadtteil wurde.

„Waren Sie schon einmal in Madrid?“, fragte die Rezeptionistin in dem Hotel im benachbarten, viel edleren Chueca, dem „Schwulenviertel“. Aber ja doch, vor zehn Jahren. „Nein“, sagte sie, „dann waren Sie noch nicht in Madrid.“

Street-Art vor einem Kiosk im Szene-Viertel Malasaña.
Street-Art vor einem Kiosk im Szene-Viertel Malasaña. © Andreas Hardt (FMG) | Andreas Hardt

So fühlen sie hier. Veränderung, vieles neu, vieles besser. Die Hauptstadt holt auf gegenüber der katalanischen Kontrahentin Barcelona, die seit Olympia 1992 in den Blickpunkt der Welt­öffentlichkeit und des Tourismusgewerbes gelangt war.

Aber jetzt kommt Madrid, anscheinend unaufhaltsam. Nicht nur für die Besucher – 20 Millionen Übernachtungen waren es 2017 –, vor allem für sich selbst. „Man lebt hier großartig“, sagt Raul Fuertes Suarez, Autor von Kurzgeschichten und begeisterter Madrileño, „das hat aber seinen Preis.“

Am Strukturwandel dürfen die Madrilenen mitentscheiden

Wie in Malasaña. Enge Gassen, alte Häuser, inzwischen meist renoviert. Die höchste Bar- und Kneipendichte in der Stadt. In den traditionellen Bars servieren sie zum Getränk natürlich „echte“ Tapas und nicht nur ein Schälchen Oliven.

Auf der Plaza Dos de Mayo, dem Zentrum dieses Stadtteils, treffen sich fast allabendlich die jungen Leute zum „Bottellon“. Sie haben Flaschen mit alkoholhaltigen Getränken mitgebracht – Vorglühen für den weiteren Abend. Erst gegen Mitternacht „bittet“ die Polizei darum, die Straßenparty zu beenden.

Mitte der 70er übernahmen die jungen Wilden

Nicht immer erfolgreich. Malasaña pflegt seinen Ruf der Rebellion, das gehört zur DNA. Am 2. Mai 1808 begannen hier die Aufstände gegen die einziehenden Truppen von Napoleon Bonaparte. Nach dem Tod Francos und dem Ende des Faschismus 1975 übernahmen hier die Jungen, Wilden, Linken und Unangepassten. Subkultur und Kreativität, Klamottenläden, Galerien und immer was zu trinken oder zu spritzen.

Die Calle Pez war ein bekannter Straßenstrich. Bis vor zehn Jahren, so heißt es, hätte sich die Polizei kaum hineingetraut in dieses Quartier. Party ist zwar noch, aber die Gäste sind oft andere. Ein Bus steht an einer Straßenecke, um Frauen zu helfen, die immer noch gezwungen sind, sich und ihren Körper zu verkaufen. In der Calle Pez eröffnete andererseits vor rund einem Jahr Madrids erstes Flamenco-Theater.

Auf der Plaza España wird es bald mehr Grün geben

Jeden Abend Show, die Plätze immer voll. „Ein Glücksfall für uns, dass wir herkommen konnten“, sagt Direktor Javier Andrade vom Teatro Flamenco, „wir passen hierher.“ Inzwischen werden in der Gegend Mietpreise von bis zu 20 Euro pro Quadratmeter gefordert und gezahlt. Die Gentrifizierung ist in vollem Gange. Vieles ändert sich.

Die gigantische Plaza de España mit dem Cervantes-Denkmal wird bald umgestaltet. Die Bürger durften mitentscheiden: Es wird mehr Grün geben, 1000 Bäume sollen gepflanzt werden. Auf der Gran Via werkeln schon die Bauarbeiter. Tatsächlich verbreitern sie die Fußwege, reduzieren die Fahrstreifen und schaffen Radwege.

Fußgängerfreundlicher Boulevard entsteht

Dieser spanische Broadway, der zwischen 1910 und 1927 mit teilweise rücksichtsloser Abbruch-Mentalität durch alte Viertel geschlagen wurde, wird in einen fußgängerfreundlichen Flanier-Boulevard verwandelt. Dort stehen die Musical-The­ater, die Restaurants, Bankpaläste und Einkaufstempel. Dort haben sich die Architekten in Jugendstil-Kitsch, Historismus und später auch in faschistischem Bombast ausgetobt.

Ernest Hemingway hat dort, Hausnummer 12, in der seit 1931 existierenden Bar Museo Chicote geschwatzt, geschrieben und getrunken, ebenso wie Sophia Loren, Frank Sinatra, Ava Gardner und heute Javier Bardem oder Pedro Almodóvar.

Die Kulturmetropole bewahrt Altes und schätzt Neues

Die Schwarz-Weiß-Fotos der berühmten Gäste hängen hinter dem im Original erhaltenen Bartresen, und auch das Originalrezept des Chicote-Cocktails wird von Barmann Nacho noch bereitet: drei Eiswürfel, ein großer Löffel Grand Marnier sowie jeweils ein Viertelglas roter Wermut und Dry Gin. Dazu ein Orangenschnitz. Das immerhin ist alles unverändert, selbst die historische Drehtür ist dank Ausnahme­genehmigung noch in Betrieb.

Dass die historische Bar das Wort „Museum“ im Eigennamen trägt, passt zu dieser Kulturmetropole, die Altes ­bewahrt, Neues schätzt und alles zusammen immer wieder anders präsentiert. 39 Museen führt die offizielle Tourismus-Website (https://www.esmadrid. com) auf. Von der Trophäensammlung von Real Madrid, einem Schifffahrtsmuseum, einem Museum für Blinde und Sehbehinderte bis hin zu den großen drei der bildenden Kunst: Prado, Reina Sofia und Thyssen-Bornemisza.

Beeindruckende Museen und Privatsammlungen

Sie befinden sich in Laufdistanz auf dem Paseo del Prado mit seinen Grünanlagen und Brunnen aus dem 18. Jahrhundert, der zur Erholung und zum Vergnügen der Madrilenen errichtet wurde. Mehr als 4000 Werke von Velázquez und ­Goya über Van Gogh, Hopper oder Joan Miró bis hin zu Picasso und Dalí sind hier zu sehen. Jeder spanische König hatte seinen Hofmaler, und die schufen und schufen und schufen. Und diese Bilder hängen jetzt im Prado-Museum.

Das Viertel Malasaña
Das Viertel Malasaña © Andreas Hardt (FMG) | Andreas Hardt

Schräg gegenüber ist in einem ehemaligen Stadtpalast die einstige Privatsammlung der deutsch-schweizerischen Industriellen Heinrich und Hans-Heinrich Thyssen-Bornemisza untergebracht, die der spanische Staat 1992 für umgerechnet lächerliche 350 Millionen Dollar kaufte. Wer einen beeindruckenden Überblick in mehr als 800 Bildern über die Entwicklung abendländischer Kunst von Altarbildern des 14. bis zu monochromen Amerikanern des 21. Jahrhunderts haben möchte, ist hier richtig.

Picassos „Guernica“ fasziniert bis heute

Dann: „Guernica“. Auf 27 Quadratmetern hat Picasso 1937 in Schwarz-Weiß-Grautönen die Schrecken des deutschen Luftangriffes auf die baskische Stadt gezeigt. Nein, fühlbar gemacht. Während des Franco-Regimes reiste das Bild durch die Welt, erst 1981 kam es ins demokratische Spanien zurück und wurde zunächst im Prado gezeigt. Madrid aber ist Veränderung.

Seit 1992 wird es im Reina Sofia präsentiert, einem ehemaligen Krankenhaus und Museum für die Kunst des 20. Jahrhunderts. Links und rechts von dem gigantischen Werk sitzen die Museumswärter/-innen auf Barstühlen. Ab und an stehen sie auf, synchron. Ein Schauspiel. Vor dem Gemälde drängeln sich die Besucher, die Handys eingesteckt, Fotografieren verboten.

Die Amerikaner verstehen das nicht. Keine Sitzgelegenheit, das reduziert die Verweildauer. Seine Wirkung aber verliert das Bild dadurch nicht. „Was sie sehen, habe ich eine Schul­klasse gefragt“, erzählt die Kunsthistorikerin Carmen Llorente. „Den Bosnienkrieg, haben sie gesagt.“ Die Kriege ändern sich, das Grauen aber bleibt.

Ein großes Kulturzentrum im alten Schlachthof Matadero

Unten am Fluss, beim Viertel Legazpi, wo die Arbeiter zu Hause waren und wo die Tiere getötet wurden für die große Stadt, da ist auch alles anders als früher. Der Schlachthof Matadero ist zu einem großen Kulturzentrum umgestaltet worden. Mehr als zwei Kilometer Mauer umschließen das Gelände, die roten Backsteinhallen sind mit hellen Fliesen geschmückt. Mudejarstil des frühen 20. Jahrhunderts. Das ist schön.

Hier gibt es Raum, inner- und außerhalb der Hallen. Ausstellungen finden statt, Konzerte, Aufführungen, Künstler arbeiten in Ateliers, ein Kino zeigt ausschließlich Dokumentarfilme. Bürgerinitiativen aus der Nachbarschaft stellen ihre Projekte vor, diskutieren über ihr Viertel, Probleme und Lösungen.

Wem das trotzdem zu viel wird, der isst schnell etwas im Restaurant. Einen der exzellenten Schinkentapas zum Beispiel – und stellt damit auch wieder einen Bezug zur gar nicht so fernen Vergangenheit her.

Wo früher Beton war, ist heute ein Park

Draußen ist es grün. Auch das war nicht immer so. Direkt neben dem Fluss Manzanares zog sich eine Schnellstraße. „Höllenautobahn“ haben die Einwohner sie genannt. Sie ist weg. Milliarden hat die Stadt vor zehn Jahren investiert, hat sieben Kilometer Tunnel gebaut und den Betonstreifen nach unten verschwinden lassen. Oben, am Ufer, ist jetzt ein Park: Madrid Rio – 120 Hektar Naherholungsfläche, die sich dem Flusslauf folgend um die Stadt legt.

Radwege, Hundeauslauf, Skaterbahn, Spielgeräte, Wasserbecken, das Konzept erinnert ein wenig an Valencia und seinen Grünstreifen im umgeleiteten Fluss Turia. Die lange Zeit vergessene Gegend im Süden wurde enorm aufgewertet. Manche fürchten für Legazpi schon eine Entwicklung wie in Chueca: schickere Restaurants, fancy Boutiquen, höhere Mieten. Noch aber ist es nicht so weit.

Am Abend kreist der Blick von der fantastischen Dachterrasse des Circulo de Belles Artes an der Calle de Alcala über die Dächer der Stadt. Hinten, Richtung Norden, stehen die vier Hochhäuser des Quattro Torres Business Center. Dazu einen Aperol Spritz oder einen Roten, dann geht langsam die Sonne unter – und unten in Malasaña beginnt wieder das allnächtliche Leben.

Tipps & Informationen

Ryanair, Easyjet und Iberia bieten Nonstop-Flüge ab Berlin nach Madrid. Ab Hamburg fliegen Ryanair und Easyjet.

Beispiele für Übernachtungen finden sich im Room Mate Hotel Oscar, Plaza de Pedro Zerolo 12, DZ ab 89 Euro, Tel. 0034/912/17 92 87, https://room-
matehotels.com/de/oscar
oder im Hotel Petit Palace Santa Bárbara, Plaza Sta Bárbara 10, Reservierung über 030/22 38 58 37, DZ ab 119 Euro, https://de.petitpalacesantabarbara.com.

Es gibt in Madrid individuelle Stadtführungen auf Deutsch. Privatführung, drei Stunden, 120 Euro. Gruppen (ab drei Personen), zwei Stunden, 24 Euro p.P., www.madridaufdeutsch.net.

(Die Reise erfolgte mit Unterstützung durch Ryanair und Madrid Destino.)