Stokmarknes. Die Postschifflinie in Norwegen feiert ein großes Jubiläum. Von Beginn an wurde die Versorgungsroute auch für Touristen konzipiert.

„Fahrt ihr zwei denn mit, wenn die ,MS Finnmarken‘ wieder flottgemacht ist? Als Kapitän und Erster Offizier? Das wäre doch was!“ Etwas verlegen lächeln Sigurd Conradsen (18) und Jakob Jensen (19) die freundliche Besucherin an. Das traditionelle Postschiff, das an der Hafenkante des Museumsgeländes im norwegischen Stokmarknes aufgepallt steht, wird nie wieder in See stechen. Das wissen die beiden Studenten sehr genau, denn sie tun hier ihren Dienst für Feuerschutz und Sicherheit. Doch der freundlichen Dame die Illusion rauben? Nein, das ist ihre Art nicht.

Manchmal ist es wichtig, zurückzukehren

Dabei ahnen die beiden Jungs gar nicht, welche Erinnerungen das Schifffahrtsmuseum bei einigen Besuchern weckt. 1893, vor 125 Jahren, begründete Kapitän Richard With hier in Stokmarknes den Dampfschiffdienst mit Namen Hurtigruten („Schnellroute“). Er sollte abgelegene Küstenorte Norwegens verbinden und Handel sowie Personenverkehr ermöglichen. Allein seit Ende des Zweiten Weltkrieges beförderte Hurtigruten mehr als 30 Millionen in- und ausländische Passagiere.

Seither steht der ganze Ort irgendwie für die heute weltbekannte Postschiff­linie – seit Generationen arbeiten Angehörige ansässiger ­Familien dort. Es sind offenbar sehr beliebte Jobs, denn angeblich werden unartige Kinder ermahnt: „Wenn du dein Zimmer nicht aufräumst, deinen Teller nicht leer isst, kannst du später nicht für Hurtigruten arbeiten.“ Vielleicht fuhren Ahnen von Sigurd und Jakob bereits auf dem allerersten Schiff, der „Vester­alen“, benannt nach der Inselgruppe nördlich des Polarkreises, auf der Stokmarknes liegt.

Als Jugendliche war sie auf Kreuzfahrt dabei

Von Beginn an war die Flotte auch für den Tourismus konzipiert, denn die Norweger sind stolz auf ihren schönen Küstenstreifen, der auf der Karte wie der „Tigerrücken“ Skandinaviens aussieht. Auf den Schiffen traditioneller Bauart gab es die erste Klasse für Kreuz­fahrer – vornehm aus dunklem Holz – und die zweite für Transportreisende. Bei Schiffen, die jüngeren Baujahres als 1952 sind, wurde die Unterscheidung in Klassen abgeschafft.

Heutzutage sind im Schnitt 70 Prozent der Passa­giere Touristen. Viele fahren in zwölf Tagen die ganze Strecke, von Bergen, an der Stirn des Tigers, nach Kirkenes, am Schwanzansatz, und wieder zurück. Das sind 34 Häfen auf 2500 Seemeilen – mindestens, denn im Sommer werden noch Extra-Abstecher in zwei Fjorde gemacht, zum Gucken und Staunen.

Das Schiff der modernen Generation, das die Museumsbesucherin an Bord nehmen wird, heißt „Polarlys“ („Polarlicht) – nach der Erscheinung, die sich in den nördlichen Polregionen in den Wintermonaten zeigt. Doch jetzt ist Sommer, und damit Zeit für eine andere Besonderheit, die Mitternachtssonne.

In Kirkenes geht es für die Reisegruppe zunächst ins Hotel und dann spätabends, es ist noch taghell, auf Königskrabben-Sa­fari. Aus Reusen werden die riesigen Schalentiere ins Schnellboot geladen und am Steg im Ganzen in einem Alutopf gekocht. Genießbar sind die Beinmuskeln, einen halben Meter langes, bockwurstdickes, leckeres Krebsfleisch – doch nach zweien droht ein Eiweißschock. Nicht auszumachen, ob der die aufgekratzte Stimmung auslöst oder das unwirklich helle grauweiße Licht um halb eins in der Nacht – oder die Vorfreude auf die Schiffsreise.

Wo bist du Freund, ich muss dich wiederfinden

Nachdem die Dame aus Deutschland morgens ihr Gepäck an Bord der „Polarlys“ gebracht hat, macht sie sich zu ihrem Erkundigungsgang auf. Die Inneneinrichtung ist hell und modern, nordisch inspiriert, alles wurde 2016 neu instand gesetzt. Es gibt sieben Decks, auf vieren befinden sich Gästekabinen in fünf verschiedenen Kategorien. Der große Bordshop bietet viel Schönes und Nützliches für unterwegs, als Andenken oder Mitbringsel. Für das leibliche Wohl sorgen die Mitarbeiter in zwei Restaurants und einer Cafeteria.

Unter mehr als 600 Passagieren, die auf die modernen Postschiffe passen, ist die Suche einzelner nicht einfach, doch es finden viele neue Begegnungen statt. Beim Abend­essen im bordeigenen À-la-carte-Restaurant Kysten sitzt am Nachbartisch ein Gast allein. Die Reisegruppe lädt ihn zu sich ein, und der 34-jährige Jan Arne Janssen hat Interessantes zu berichten. Er kommt gerade von einer ganz besonderen Reise, die er mit seinem guten Freund Anders Helstrup (38) und dessen ­Husky-Grönlandhund Obelix gemacht hat.

Die drei haben ihr Land wie Kartografen sozusagen vermessen. Sie besuchten den jeweils westlichsten, östlichsten, südlichsten und nördlichsten Punkt – zu Fuß, auf Skiern und in Seekajaks. In insgesamt 15 Monaten – so was braucht eben seine Zeit. Dokumentiert haben sie die Tour mit wundervollen Fotos (www.wilsonblogg.com; eventyri.no). Nach der Bedeutung von Hurtigruten gefragt, sagt Jan: „Die Schiffe sind ein Teil der norwegischen Identität und für die Menschen an der Küste eine wichtige Verbindung zum Rest des Landes. Doch tatsächlich fahre ich selbst ge­rade zum allerersten Mal mit.“ Dann fügt er hinzu: „Diese angenehme Art des Reisens gefällt mir. Und ich freu mich, dass Besucher aus ­aller Welt so unser schönes Land erleben.“

Doch auch heute noch sind es die Begegnungen, die einen besonderen Charme auf der Postschiffroute ausmachen. In den kleinen Anlaufhäfen ganz im Norden des Landes erfüllen die Schiffe darüber hinaus auch eine weitere soziale Funktion: Während der zumeist halbstündigen Liegezeit gehen Einwohner der Orte an Bord, um dort in der Cafeteria gemeinsam Kaffee zu trinken, Informationen auszutauschen und sich mit aktuellen Zeitschriften zu versorgen. Diese so genannten kaffegjengs verlassen dann unmittelbar vor dem Ablegen wieder das Schiff.Sie weiß nicht, in welchem Hafen er zustieg

Außen an Deck beobachten interessierte Mitreisende, wie Hafenarbeiter beim An- und Ablegen die schweren Festmacher über Poller heben. Die Schiffe der modernen Generation legen stets mit Backbord an, der linken Schiffsseite, denn dort haben die eigens für Hurtigurten gebauten Ro-Ro-Schiffe (Roll on/ Roll off) sowohl die Ladeluke als auch die Gangway für die Passagiere.

Früher befanden sich an Bord zwei Kräne, einer für den Stauraum am Bug und einer mittschiffs achtern. Da schwebten dann wie an Riesenkrakenarmen Bündel mit Brief- und Paketsendungen und Stückgut, Waschmaschinen oder Motoren über den tiefen Spalt zwischen Schiff und Kaimauer. In manchen Häfen spielte zur Begrüßung und Unterhaltung der Passagiere eine Kapelle der norwegischen Heilsarmee, Frelsesarmeen Sagene, auf.

Jetzt erkennt man oben auf der rundum verglasten Kommandobrücke die ranghöhere Besatzung, wie sie peinlich genau zwischen Kaimauer und nebenan liegenden Steininseln, den Schären, manövriert. Das ist heute mit Bug- und Seitenstrahlrudern wesentlich ein­facher als früher, doch die modernen Schiffe haben gegenüber den traditionellen auch um einiges an Länge und Breite zugelegt.

Als rufe etwas – und wolle gefunden werden

„In der heutigen Zeit fahren die Schiffe ganz pünktlich nach Fahrplan, das war nicht immer so“, sagt Kapitän Jon Olaf Klodiussen. Der ­55-Jährige fährt seit vielen Jahren für Hurti­gruten, meist auf der „Polarlys“. „Früher sind sie gekommen, wie es eben passte“, sagt er. „Manchmal musste in einem Hafen unvor­hergesehen Ladung, vielleicht Fisch oder Kartoffeln, an Bord genommen werden – dann dauerte es länger. Die Einwohner in den Hafenorten wussten, wir kommen, wenn wir kommen.“ Dass sie kamen, darauf war stets Verlass – und zwar bei Sturm und Wetter.

Klodiussen erzählt auch von den Drei-Wochen-Schichten, in denen er arbeitet, und von dem Gefühl, wenn er nach 21 Tagen Landurlaub wieder an Bord geht. Er klopft sich mit der rechten Faust auf die linke Brust. „Dann bin ich glücklich. Das Meer ruft nach mir.“ Welches sein Lieblingsschiff der Flotte sei? Fast flüsternd kommt die Antwort: „Die ,Polarlys‘“ – und noch mal klopft der Kapitän sich mit der Faust auf die Brust.

Sie weiß nicht mehr genau, wo ihr damals eingestiegen seid. Plötzlich habt ihr dort gestanden Trauer und Glück liegen oft nah beieinander

Als die „Polarlys“ in Hammerfest angelegt hat, gehen die Touristen von Bord, sich die nördlichste Stadt der Welt anzusehen. Unsere Passagierin hat die markante Kirche vom Wasser aus erkannt, sie stand damals, 1980, bereits hier. Die Glocken läuten zum Gottesdienst, der suchende Blick der Frau fällt auf den angrenzenden Friedhof, über die Grabsteine. Steht irgendwo „Mik“ oder „Mikael“ geschrieben? Wenn wir damals einfach hier ausgestiegen und geblieben wären, denkt sie, lägst du dann hier? Oder lebtest du noch?

Weiter geht die Schiffsreise, vorbei an hohen, zerkarsteten Fjordwänden und flachen, glatt geschliffenen Felseninseln. Wie die Wirklichkeit, denkt sie, mal uneben und kantig, dann abgerundet, fast sanft. An Ecken, die mit so frischem Grün bewachsen sind, dass man eines der hier weidenden Schafe sein möchte, stehen in Gruppierungen die typisch skandinavischen Unten-Stein-oben-Holz-Häuser in bunten Farben. Hinter jeder Biegung, die das Schiff fährt, ergibt sich ein neues Bild. Man lässt vieles einfach hinter sich, und bald geht es wieder aufs offene Meer.

Wer die Chance hat, an einem Sonnentag in kleinen Schnellbooten übers spiegelglatte Wasser durch die Region der Lofoten zu flitzen, dem verpasst das Glücksgefühl über so viel Schönheit nicht nur ein Grinsen ins Gesicht, es brennt sich ein, irgendwo dort, wo der Kapitän hingeklopft hat. Da kann man es bei Bedarf mal wieder hervorholen.

Endlich wird alles klar und fühlt sich gut an

Die „Finnmarken“ in Stokmarknes wird nicht wieder fahren, Gäste aber heißt die alte Lady noch willkommen. Unsere Lady klettert die Gangway hoch, sie betritt das Deck. Es riecht nach Eisen und Holzlack. Links geht es zum Heck und in die erste Klasse, wo mit rotem Samt bezogene Sessel stehen. Hier war es nicht. Sie folgt den Gängen, alles wirkt wie zur Fahrt bereit. Da sieht sie die alte Joker-Is-Kühltruhe, und ein Film läuft vor ihrem inneren Auge ab. Vorbei am Verkaufstresen für Käsebrötchen, Kaffee und Zimtschnecken, am Postkartenständer aus Draht. Im Vorraum auf den Holzbohlen standen sie, der Rucksack­reisende aus Südafrika und seine beiden Freunde. Es ist, als träfen ihre Blicke sich erneut. Heimlich klopft sie sich, als sie über die Metallrampe von Bord geht, aufs Herz.

Tipps & Informationen

Anreise Ab Berlin oder Hamburg z. B. mit SAS über Oslo nach Kirkenes oder Bergen.

Kreuzfahrt Die klassische Route führt in zwölf Tagen über die ganze Strecke Bergen–Kirkenes–Bergen. Pro Person in der Zweierkabine ab 1196 Euro. Auskunft über spezielle Angebote und Teilstrecken unter Tel. 040/87 40 92 34 sowie auf www.hurtigruten.de

Postschiffmuseum in Stokmarknes, Richard Withs plass, täglich geöffnet, Eintritt 100 Kronen – ca. 10,50 Euro

(Die Reise erfolgte mit Unterstützung durch Hurtigruten.)