Saint John’s. Lange Zeit prägte in Neufundland der Kabeljaufang den Alltag – heute gehen die ansässigen Fischer neue, dem Tourismus zuträgliche Wege

Frischtrawler ankern, ein Tanker von den Ölplattformen im Atlantik läuft ein. Einst war der Hafen mit Schiffen aus aller Welt überfüllt, heute kann man sie zählen. Voll sind die Pubs und Restaurants dahinter. Hier schlägt das Herz von St. John’s. Auf dem Hügel Signal Hill liegen uns die Hauptstadt Neufundlands und der Ozean zu Füßen.

„Ihr habt einen guten Tag erwischt“, sagt Larry Hann aus St. John’s. Nach seiner morgendlichen Wanderung, den beliebten North Head Trail hinauf, genießt er das Panorama. „Das Meer bestimmt unser Leben“, sagt der 68-Jährige. Lange war es der Fischfang, heute sind es die Ölplattformen und die Eisberge. Larry liebt den Herbst, wenn sich das Grün der Wälder rötlich färbt und auf der Insel Indian Summer ist.

„Fahrt nach Süden und genießt die Küste“, ruft er. Wir folgen seinem Rat und fahren nach Cape Spear, wo es aussieht wie am Ende der Welt. Nirgendwo ist Nordamerika Europa näher als hier, am östlichsten Punkt, wo die Sonne im Norden Kanadas zuerst aufgeht. Zwischen Granitgestein führt ein Weg zum ältesten Leuchtturm der Provinz, zu der die Insel Neufundland und das an das Festland angrenzende Labrador zählen, die seit 1949 zu Kanada gehört.

Nach kurzer Fahrt an der Ostküste die Halbinsel Avalon entlang, steigen wir in der Bucht Witless Bay mit Michael Gatherall ins Boot. Der ehemalige Bootsbauer fährt uns durch ein Naturschutzgebiet, in dem unzählige Papageientaucher an den Klippen leben. „Schaut mal, da vorne“, ruft er. Vor uns steigen die Fontänen zweier Wale auf. Mehr als zehn Walarten sind vor den Küsten Neufundlands zu sehen.

Die reichen Fischvorkommen lockten auch Europäer hierher

Wir können nicht genug vom Meer bekommen und fahren weiter zum Kajak-Guide Stan Cook, der uns schon mit Schwimmwesten erwartet. Fast lautlos paddeln wir aus der Bucht, vorbei an Wasserfällen, durch felsige Höhlen und weiter auf das offene Meer. Die Zeit scheint still zu stehen, die Natur ist ­magisch und hat uns im Griff. Doch frische Luft macht hungrig, und der Kanadier Ron Hann weiß sofort den besten Platz: ein Picknick unter dem Leuchtturm von Ferryland.

Vor rund 15 Jahren renovierten Jill Curran und Sonja O’Keefe das verfallene Gebäude von 1870 und eröffneten ein Café mit köstlichen Sandwiches, selbst gemachter Limonade und Kuchen. Jills Großmutter wuchs auf dem Felsen auf, und Generationen ihrer Vorfahren waren hier als Wärter tätig. „Leuchttürme haben unzählige Leben gerettet, sie verdienen Respekt“, sagt Jill. Mehr als 50 stehen an der sturm­umtosten Insel Neufundland, die mit Labrador knapp 30.000 Kilometer Küstenlinie besitzt.

Der berühmteste steht auf dem südlichsten Kap namens Cape Race. Durch den häufig herrschenden dicken Nebel sind hier in der Vergangenheit zahlreiche Schiffe auf Grund gelaufen. Die ehemals wichtige Funkstation und Schaltstelle für Nachrichten in alle Welt empfing im Jahr 1912 auch die Notrufsignale der „Titanic“, die 300 Seemeilen entfernt den Eisberg rammte. Unweit vom Kap wurden auf Granitfelsen die ältesten Fossilien der Welt entdeckt, die heute zum Unesco-Welterbe zählen.

Im Norden sind einige einst belebte Dörfer heute Geisterstädte

Wir verlassen den Süden und fahren weiter nach Norden. In der Nähe von New Bonaventure tritt Bruce Miller aus seinem Bootsschuppen und schaut aufs Meer hinaus. „Wir müssen uns ­beeilen, ein Sturm zieht auf, zieht euch schnell die Regenklamotten über“, sagt er. Gelb von Kopf bis Fuß, steigen wir in das kleine Boot. Bruce gibt Gas und prescht nach British Harbour und Irelands’s Eye, zwei der vielen entlegenen Fischerdörfer in den verschlungen Buchten. Er drosselt das Tempo und holt alte Fotos aus der Tasche.

„Früher standen hier Schuppen und Holzkirchen, die Menschen lebten in ihren Stelzenhäusern und fuhren mit ihren Booten hinaus“, sagt Miller und hält die Bilder aus den 1950er- und 60er-Jahren hoch. Heute liegen am Ufer verfallene Hütten. „Alles weg, dies sind die Geisterstädte Neufundlands.“ Miller erzählt, wie sie damals den Kabeljau ­fingen, ihn in Salz einlegten, seine ­Bäckchen als Delikatesse verkauften.

Geld verdient er heute mit Bootstouren. Viele haben die Küste verlassen. „Mein Vater und Großvater waren Fischer, hier bin ich zu Hause“, sagt der 58-Jäh­rige, der nicht wegwill. Wer die Aussicht auf den Atlantik, die blühenden Wiesen im Sommer und die ursprüngliche Natur erlebt, weiß warum.

Jahrelange Überfischung rottete den Kabeljau fast aus

Erst besiedelten Wikinger und Inuit das Land. Später entdeckten Basken und Portugiesen, Engländer und Franzosen die reichen Fisch- und Walvorkommen vor der Küste. Giovanni Ca­boto, der hier John Cabot genannt wird, betrat 1497 Neufundland und berichtete England von Fischen, die man „mit Körben aus dem Meer schöpfen“ könne. Der Kabeljau blieb über Jahr­hunderte die wichtigste Lebensgrund­lage der Inselbewohner.

Doch jahre­lange Überfischung insbesondere durch internationale Industrietrawler rottete den begehrten Fisch fast aus. Da sich durch Fangquoten die Bestände nicht erholten, wurde 2002 der Kabeljaufang in Kanada offiziell eingestellt. Die Restriktionen ab 1992 machten viele Menschen arbeitslos. Inzwischen sorgen Bergbau und Offshore-Erdölförderung für neue Jobs. Gefischt werden Hummer und Shrimps, und auch „Cod“ kommt wieder auf den Tisch.

Nicht nur Kabeljau ging in die Geschichte ein. Im Cabot Tower auf Signal Hill bei St. John’s begann 1901 das Zeitalter der Telekom­munikation mit dem Empfang der ersten transatlantischen Funknachricht aus Cornwall. 18 Jahre später startete von hier der erste Transatlantikflug. Der frühere britische Premier Winston Churchill und US-Präsident Franklin Delano Roosevelt legten 1941 auf einem Schiff vor Neufundland den Grundstein für die Nato.

Und auf dem kleinen Flughafen Gander landeten in der Woche der Terroranschläge am 11. November 2001 knapp 40 Flugzeuge, nachdem die USA den Luftraum schlossen. Etwa 7000 gestrandete Passagiere kamen bei Bewohnern unter. Ihre Geschichte wird heute am Broadway im Musical „Come from away“ erzählt.

Ein beliebter Wanderweg führt oberhalb der Klippen entlang

Dem Ende der Fischerei fielen zum Glück nicht alle Dörfer an der Küste zum Opfer. Längst strahlen die roten, blauen und weißen Holzhäuser früherer Fischer und Bootsbauer in Trinity auf der Bonavista Halbinsel an der Ostküste in neuem Glanz. Die gebürtige Hol­länderin Tineke Gow und ihr Mann John verliebten sich bereits Mitte der 70er-Jahre in den Ort zwischen Meer und Hügeln. Sie träumten zunächst nur von einem kleinen Ferienhaus, und als mit dem Einbruch der Fischerei ein Haus zum Verkauf stand, griffen sie zu.

Dann folgten weitere Häuser, die sie restaurierten, verkauften und als ­Ferienunterkünfte unter dem Namen Artesan Inn vermieten. „Es ist wie ein Stück der alten in der neuen Welt, und das inmitten dieser wundervollen Natur“, sagt Tineke Gow, deren Tochter Marieke inzwischen Sommelière im ausgezeichneten Restaurant des Familienbetriebs ist. Gegenüber von Trinity, oberhalb der Bucht, verläuft am Rande der hohen Klippen der Skerwink Trail, ein Wanderweg mit fantastischen Aussichten. Er gilt als einer der schönsten Kanadas.

Im Sommer sind Eisberge die ganz besondere Attraktion an der Ostküste. Sie lösen sich von den Gletschern Grönlands und ziehen an Neufundland vorbei. Bevor sie weiter südlich zu schmelzen beginnen, zieht es Ed Kean mit Lastkahn und Bagger hinaus, um etwas Eis zu ernten und es als Eiswasser zu verkaufen. Sehr gefragt ist es bei Iceberg Vodka in Toronto und auch in der Brauerei in Quidi Vidy bei St. John’s, die daraus frisches, helles Iceberg Beer herstellt.

„Es ist das reinste Wasser, 25.000 Jahre alt“, schwärmt Les Perry von der Brauerei. Die Gründer bauten nach dem Fischkollaps ein altes Fischereigebäude um und hauchten dem kleinen Hafen neues Leben ein. An unserem letzten Abend findet in der Brauerei eine „Kitchen Party“ statt. Essen gibt es am Ufer, Bier frisch vom Zapfhahn, und eine Band spielt irische Lieder.

Hier treffen wir auch Larry Hann wieder, dessen Boot im Hafen vertäut liegt. Auch sein Vater war Fischer. Seine Eltern waren mit ihm in die Stadt gezogen, damit aus ihm etwas „Besseres“ werde. Doch was gibt es Besseres? „Wenn ihr Neufundländer werden wollt, müsst ihr nach alter Tradition einen Kabeljau küssen und einen Schnaps trinken“, sagt er grinsend. Her mit dem Kabeljau!

Tipps & Informationen

Anreise z. B. mit Air Canada über Toronto nach St. John’s oder ab Hamburg mit Eurowings und Air Canada über London.

Übernachtung in St. John’s: z. B. im Murray Premises Hotel, 5 Beck’s Cove Road, DZ ab 130 Euro, www. murraypremiseshotel.com – in Trinity: im Artisan Inn & Twine Loft, 57 High Street, DZ ab 100 Euro, www.trinityvacations.com – bei Cape Race: Edge of Avalon Inn, 113 Coarse Hill Road, Trepassy, DZ ab 120 Euro, im Gasthaus wird das letzte Menü der „Titanic“ serviert, https://edgeoftheavaloninn.com

Aktivitäten Touren zu Papageien- tauchern und Walen: Gatherall’s, 90 Northside Rd, Bay Bulls, https://gatheralls.com; Kajaktouren: Stan Cook Sea Kayak Adventures, Cape Broyle, http://www.stancook. ca, Rugged Beauty Boat Tours, mit Bruce Miller zu Fischerdörfern, Walen und Eisbergen, Trinity Bay, www.ruggedbeautyboattours.net

Auskunft https://de-keepexploring.canada.travel, www.newfoundlandlabrador.com

(Die Reise erfolgte mit Unterstützung durch Destinationen Kanada und Neufundland/Labrador.)