Berlin. Wer Säuglinge schüttelt, bringt sie in Lebensgefahr. Ambulanzen sollen Eltern helfen, mit dem Stress einer Schreiattacke umzugehen.

Die Mutter geht aus, der Vater bleibt zu Hause und will auf den Sohn aufpassen – es soll ein ruhiger Fernsehabend werden. Doch er endet für die junge Familie in einer Katastrophe: Der damals zweieinhalb Monate alte Säugling wird seitdem von epileptischen Krampfanfällen heimgesucht. Er sabbert und muss über eine Magensonde ernährt werden.

Dass er heftig geschüttelt worden war, bekamen die Ärzte erst nach einiger Zeit heraus. Als der Vater, der zunächst alles abgestritten hatte, weinend zugab: Er war ständig durch das schreiende Kind gestört worden – aus war’s mit dem geplanten Fernsehabend.

Der Vater kam erst zur Besinnung, als das Kind steif wurde

Die Situation hatte sich zugespitzt, und der Vater war erst wieder zur Besinnung gekommen, als das Kind nach seiner Schüttelattacke steif wurde, zuckte und blau anlief.

„So wurde uns das Baby vom Rettungsdienst gebracht. Wir haben es wiederbelebt und dann die typischen Symptome festgestellt: Blutungen unter der Hirnhaut sowie Netzhautblutungen am Auge“, sagt Bernd Herrmann, Oberarzt in der Kinderschutz- und Kindergynäkologie-Ambulanz des Klinikums Kassel.

Ein Baby, das über Stunden schreit, zerrt an den Nerven der Eltern. Wenn sie die Beherrschung verlieren und das Kind schütteln, bringen sie es in Lebensgefahr. Oft unbewusst, wie eine Umfrage des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen (NZFH) zeigt.

Zwischen 100 und 200 solcher Fälle pro Jahr

Viele Eltern sind mit der Situation offenbar überfordert. Zwischen 100 und 200 solcher oder ähnlicher Fälle werden laut NZFH jährlich in Deutschland registriert – hinzu kommt eine hohe Dunkelziffer.

„Ein Schütteltrauma ist wie ein Erdbeben im Kopf“, erklärt Bernd Herrmann. Und sein Kollege Thomas Fischbach, Sprecher des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte, ergänzt: „Der kindliche Kopf ist verglichen mit Erwachsenen im Verhältnis zum übrigen Körper größer, außerdem ist das Haltesystem noch nicht ausgereift.“

Zwei Drittel der Babys haben anschließend Behinderungen

Wird der Kopf beim Schütteln hin und her geschleudert, schlägt das Gehirn gegen den Schädelknochen. „So werden empfindliche Nerven und Blutgefäße verletzt, was in bis zu 30 Prozent der Fälle tödlich endet“, sagt Heidrun Thaiss, Kinderärztin und Leiterin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). „Diesen Hintergrund müssen sich Eltern bewusst machen.“

Zwei Drittel der Babys mit einem Schütteltrauma haben anschließend Behinderungen, Seh- oder Sprachstörungen – zudem gelten die Folgen des Schüttelns als häufigste Ursache des nicht natürlichen Kindstodes.

Initiativen versuchen, solche Ereignisse zu verhindern

Die Täter zeigten sich oft betroffen: „Sie hoffen, dass sie davonkommen. Dabei kann das Schütteln juristisch gesehen schlimmstenfalls als Körperverletzung mit Todesfolge oder sogar als Totschlag gewertet werden“, sagt Prof. Klaus Püschel, Direktor des Instituts für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.

Viele regionale Initiativen versuchen bereits, solche Ereignisse zu verhindern. Nun haben sich über 30 Verbände, Vereine und Institutionen dem „Bündnis gegen Schütteltrauma“ innerhalb des NZFH angeschlossen, das bei der BZgA seinen Sitz hat. „Unser Ziel ist es, dass Eltern erst gar nicht in die Situation kommen, ihr Kind zu schütteln“, erklärt Heidrun Thaiss.

Der Säugling ist nicht immer Quell der Freude

Thaiss weiß, dass ein Säugling für Eltern nicht immer nur ein Quell der Freude ist: „Er gibt den Takt im Lebensrhythmus vor und kann Vater und Mutter dadurch in Grenzsituationen bringen.“ Eine Befragung von 1009 Frauen und Männern durch das NZFH zeigt einen großen Aufklärungsbedarf.

Dabei stellte sich heraus, dass zwei Drittel der Befragten nicht wussten, dass es im ersten Lebensjahr eine besondere Schreiphase gibt, die mit verschiedenen Reifungsprozessen und der Gewöhnung an die neue Umgebung zu tun hat.

„18 Prozent der Eltern sind sogar der Meinung, das Kind will sie ärgern, wenn es schreit. Sie wissen offenbar nicht, dass es keine andere Möglichkeit hat, sich zu äußern“, sagt Thaiss.

„Erst sind die Eltern besorgt, dann ratlos oder wütend“

Hinter dem Geschrei können viele Gründe stecken: eine volle Windel, Hunger, Übermüdung, der Wunsch nach Zuwendung. Kinderarzt Fischbach führt aus: „Wenn sie das Kind nicht beruhigen können, sind die Eltern erst besorgt und dann immer häufiger ratlos, verzweifelt oder wütend.“

Im Affekt komme es dann dazu, dass sie es packen und schütteln – was vielen nachher leidtue. Thaiss: „Das allein reicht nicht! Sie sollten das Kind unbedingt in eine Klinik oder zum Kinderarzt bringen.“

Schreiende Kinder an einen sicheren Ort bringen

Das NZFH will Eltern beraten, wie sie gegensteuern können, damit diese Situation gar nicht erst entsteht. Zum Beispiel, indem sie das schreiende Kind an einen sicheren Ort bringen – in sein Bett oder den Kinderwagen.

„Dann sollten sie den Raum verlassen, um sich zu besinnen“, betont Fischbach. Nach ein paar Minuten sei man meist wieder in der Lage, nach dem Kind zu schauen – das unterdessen entweder aufgehört hat zu schreien oder sich dann beruhigen lässt.

„Wenn das nicht der Fall ist, sollten sich Eltern Hilfe holen, bei Freunden, Familienmitgliedern, Nachbarn, aber auch beim Kinderarzt oder der Hebamme.“ Profis in Schwangerschaftsberatungsstellen oder in sogenannten Schrei-Ambulanzen unterstützen nach Worten von BZgA-Leiterin Heidrun Thaiss, wenn ein sogenanntes Schreibaby bis zu drei Stunden lang keine Ruhe gibt.

„Nach einem Viertel Jahr brechen ruhigere Zeiten an“

Eine vorübergehende Phase – wie die Expertin erklärt: „Nach dem ersten Vierteljahr brechen in der Regel ruhigere Zeiten an.“ Und es wäre fatal, wenn die Familie diese wegen eines Moments der Unbeherrschtheit dann nicht mehr unbeschwert erleben könnte.