Itto­qqortoormiit. Eine Expeditionskreuzfahrt an Grönlands Ostküste führt in den Scorebysund. Es offenbart sich eine Zauberwelt aus Inseln und Gletschern.

Das kleine, motorisierte Polarzirkelboot treibt entlang kristallener Skulpturen. Sonnenstrahlen brechen sich in durchsichtigen, lichthellen Türkis-, Grau- und Blautönen. Übermannshoch, mehr als zehn Meter breit und hintereinander geschichtet sind die Eisgebilde, eins gleicht einem Rentier – wie kunstvolle Formationen für den Weihnachtsmärchenwald. Die Zeit scheint stillzustehen, alle halten den Atem an, nur ein leichtes Gluckern am Schiffsrumpf ist zu hören. Dann ein vorsichtiges Aufjauchzen von Carol, gefolgt von Bobs leisem Lachen und Carols Entschuldigung: „Sorry für meine Oooohs und Aaahs ...“ – kein Problem, Carol, in Gedanken frohlocken wir alle.

Selbst ein alter Hase wie der 78-jährige Bob Rowland vom Expeditionsteam kommt aus dem Staunen kaum heraus, ebenso wie die restlichen Passagiere der Polar Circle Boat Tour im grönländischen Scoresbysund. Diese wertvolle Sequenz meiner Grönlandreise kann ich wieder und wieder abrufen, denn ich habe sie als Video auf meinem Smartphone gespeichert. Zum Glück hat das Gerät bei den eisigen Temperaturen entlang der riesigen Gletscher nicht schlappgemacht – zwischenzeitlich steckte es in meinem Thermo-Overall, in den wir alle morgens um 7.20 Uhr im Unterdeck der „MS Fram“ vor dem Ausflug mit den kleinen Booten eingekleidet wurden. Nun sehen wir aus wie Weihnachtsmänner, nur nicht in Rot, sondern in Neongrün.

Das Team führt die Passagiere sicher auf alle Landausflüge

Nach mehr als drei Stunden kehren wir zurück an Bord des Expeditionsschiffs. Geplant war eine eineinhalbstündige Tour durch die Inseln und Gletscher – doch die Ausläufer des Scoresbysunds im Osten Grönlands bergen eine Zauberwelt, und wer einmal ganz nah dran ist, will nicht so schnell wieder weg. Fünf Tage hält sich die „MS Fram“ in diesem mit 38.000 Quadratkilometer größten und längsten Fjordsystem der Welt auf. Zum Vergleich: Grönlands Mutterland Dänemark hat etwa 43.000 Quadratkilometer Gesamtfläche.

Das elfköpfige Expeditionsteam unter der Leitung des Berliner Geologen Steffen Biersack führt auf dieser Kreuzfahrt die Passa­giere sicher und gut informiert auf alle Landaus­flüge in die überwältigende Natur Grönlands. Es sind fünf Frauen und sechs Männer, unter ihnen Geologen, Biologen, Tourenführer und eine Fotografin. Der US-Chinese Yibo Li ist allein zuständig für eine Gruppe von 15 chinesischen Passagieren, die für 88 Tage an Bord der „Fram“ bleiben werden. Sie befinden sich auf einer Reise von Pol zu Pol, aber das ist eine andere Geschichte, die vielleicht bald in einer chinesischen Zeitung zu lesen sein wird.

Eine Biologin vom Expeditionsteam referiert über Plastikmüll im Meer

Die Experten referieren über Natur und His­torie Grönlands – und unbedingt über das ­viele Plastik, das die Weltmeere verschmutzt und durch den Golfstrom an Grönlands Küsten getrieben wird. Regelmäßig sammelt das Team mit helfenden Passagieren an Stränden Kunststoffmüll, gestern waren es 23 Kilogramm. Auf dem Schiff selbst wurde für die Müllvermeidung bereits einiges umgestellt, so werden keine Plastikflaschen verkauft, sondern es gibt nachfüllbare Trinkflaschen und kostenfreie Wasserspender. Die Cocktails in der Bordbar kommen ohne Strohhalme aus. Wer in dem Vortrag der jungen Biologin Helga Bårdsdatter Kristiansen ein Foto des Seepferdchens sieht, das sich im Meer an einem Q-Tip festhält, hat dafür jedes Verständnis.

Klare Anweisung für alle ist auch, von den Landgängen nichts mitzunehmen, keinen Stein, keine Pflanze, nicht mal Vogelfedern. Auf Fotos halten die Passagiere alle Erinnerungen fest. Als nachts von der Brücke über Lautsprecher Polarlichter angekündigt werden, kann ich zwar an Deck laufen und die grünen Lichtvorhänge bestaunen, doch für Aufnahmen des Naturschauspiels ist meine Kamera ungeeignet. Dafür sammle ich in meiner Kabine Reste von Tampen und Fischernetzen als Andenken. Vielleicht wäre es ein Projekt, daraus ein Kunstwerk entstehen zu lassen ...

Als ich vor fünf Tagen im isländischen Reykjavík auf der „Fram“ meine Kabine bezog, empfand ich dort die Kunst an der Wand zunächst als etwas eintönig, zu unbunt. Doch nach und nach beginne ich das Bild zu verstehen – ein Motiv von weiter Schneelandschaft mit Jagdelementen, einem Hundegespann und Schriftzeichen bestätigt mir, was ich begreife. Grönland ist ein stilles Land, die Schönheit der Ruhe wirkt auch in Bezug auf Farbigkeit.

Hurtigruten begann 1893 mit Postschifflinie

„Das ist ein Druck von Anne-Birthe Hove, einer grönländischen Künstlerin, die von 1951 bis 2012 lebte“, erklärt mir Yngve Skog Rodal, Hotelmanager der „Fram“, als wir gemeinsam in der Cafeteria an Deck vier sitzen und uns unterhalten „Die großen Kupfertafeln in den Treppenaufgängen sind auch von ihr. Wir haben auf den Hurtigruten-Schiffen lauter nordische Kunst, viele Skandinavier, aber auch ­Isländer und Grönländer.“ Und dann erzählt mir der sympathische Norweger, was er für eine besondere Beziehung zu der Reederei hat, die im kommenden Jahr ihr 125-jähriges Bestehen feiern wird, nachdem im Jahr 1893 alles mit der heute weltberühmten Postschifflinie entlang Norwegens Westküste begann.

Wie eine Szene aus einem skandinavischen Kinderfilm sehe ich es vor mir. Yngve, dich als Jungen im norwegischen Kristiansund ausdauernd am Fenster im Haus deiner Großmutter stehend, das den besten Ausblick über den Fjord bietet. Dann legst du behutsam das Fernglas beiseite und läufst aufgeregt aus der Tür zum Haus deines Freundes Frederik Hals, Kapitän a. D. der Postschifflinie Hurtigruten und 50 Jahre älter als du. Eine der zwei täglich zur Versorgung einlaufenden Fähren hast du zwischen den Schäreninseln entdeckt, ihre Ankunft ist jedes Mal ein Erlebnis, und gemeinsam lauscht ihr auf das Schiffshorn. Am Klang, erzählst du mir, konntet ihr sie alle auseinanderhalten, die „Vesteralen II“, die „Narvik“, „Kong Olav“ und die acht anderen.

Die Seefahrt in den Genen

30 Jahre später, gerade 44 Jahre alt geworden, lächelst du noch immer stolz. Damals konntest du noch nicht wissen, dass du auf der „Fram“ einmal eine so wichtige Position bekleiden würdest. Eigentlich wolltest du, Seemannssohn, der den Vater häufig vermisste, dies eigenen Kindern ersparen und bist ins Hotelfach gegangen. Doch irgendwie liegt dir die Seefahrt wohl in den Genen. Was, wenn deine eigenen Kinder später auf dem Schiff arbeiten wollen? „Ich werde das nicht forcieren, aber wenn, dann wäre das schön.“

Zum ersten Mal an Bord der „Fram“ und für die Zeit im ­Scoresbysund Teil des Teams ist der 21-jährige Niels Sanimuinaq Rasmussen. Halb Däne, halb Inuit, stammt er aus dem Ort am Fjordeingang, der auf Grönländisch Itto­qqortoormiit heißt. Der junge Mann ist ­Jäger, ausgebildet von seinem Vater, der ihn erstmals mit auf die Jagd nahm, als Niels fünf Jahre alt war. „Wie kommt es, dass du hier für Hurtigruten arbeitest?“, wird er gefragt. „Eines Morgens sagte mir meine Mutter, jemand habe für mich angerufen. Er bot mir für einige Tage einen Job im Fjordsystem an. Erst dachte ich, es ginge ums Jagen. Aber ich sollte auf einem Kreuzfahrtschiff arbeiten. Warum nicht, dachte ich mir, das ist neu für mich, es wird sicher aufregend“, sagt Niels grinsend, und seine dunklen Augen blitzen fröhlich auf.

Grönländer jagen im Scoresbysund Robben, Walrosse und Narwale

Nun ist der aufgeschlossene junge Mann, der sein sehr gutes Englisch laut eigener Aussage durch das Gucken von Fernsehserien erwarb, als Berater an Bord – und als Geschichtenerzähler. Er schlägt dem Expeditionsteam sehenswerte Plätze vor, erklärt Besonderheiten von Natur und Tierwelt. Werden Hintergrundinformationen jeglicher Art gebraucht, der umtriebige Niels hat sie. „Heute früh wurde ich auf die Brücke gerufen, sie hatten Bewegung an der Wasseroberfläche ausgemacht, die sie nicht deuten konnten. Es war nur ein Schwarm Vögel.“ Entwarnung für den Steuerstand, aber Vogelkundler Dauphin aus dem Expertenteam war froh über Niels’ Hinweis.

In einem Vortrag erzählt der Grönländer von seinem Leben als Jäger. Davon, dass man Tag und Nacht draußen sitzt, irgendwie am Rande des Lebens, doch mittendrin. „Ich liebe diese Art zu leben, es ist meine Art. Während ich auf Robben und Walrosse warte, bin ich in Verbindung mit der Natur. Ich sitze da und betrachte den Wind, den Schnee, die Hunde, die Sonne, die Aussicht. Ich würde jedem Empfehlen, das einmal zu machen. Für diese Grenzerfahrung muss man nicht selbst jagen.“

Stolz zeigt Niels auf einer Leinwand Dias von seiner Schwester in ostgrönländischer Tracht, die an nationalen Feiertagen getragen wird. Und von seiner Jagdwaffe, einer 30-06, die er nicht mit an Bord nehmen durfte. „Im Winter, wenn du das Gewehr bei bis zu minus 35 Grad stundenlang halten musst, wird Gaffa-Tape zu deinem besten Freund. Damit klebst du die Waffe an deinem Arm fest. Ich jage vor allem Moschusochsen und Robben, denn die werden von meiner Familie benötigt.“

Die Jagdquoten von IIttoqqortoormiit waren dieses Jahr im September erfüllt

Gibt es noch Fragen? „Fragt einfach, wie man merkt, rede ich gern“ – und alle lachen mit dem fröhlichen jungen Mann, der noch einen Tipp hat, wie der komplizierte Name seines Heimatortes zu merken ist. Die Eselsbrücke lautet frei übersetzt „Iss Hund, schneide Tür Fleisch“: „Eat-dog-cut-door-meat“.

Die Jagdquoten von IIttoqqortoormiit waren dieses Jahr bereits im September erfüllt. Eisbären, Moschusochsen, Walrosse, Narwale – als Niels die Tiere aufzählt, fühle ich mich dem Thema fast zugehörig, denn seit zwei Jahren trage ich eine silberne Armspange mit einem Zitat aus „Moby Dick“, das übersetzt lautet „während Herden von Walrossen und Walen unter seinem Kopfkissen hindurchjagten“. Dieses Bild erfüllt sich für mich des nachts in meiner Koje auf der „Fram“.

Viele Einzelgeschichten weben das Gesamtbild

Aus all den Reiseerlebnissen eine Geschichte zu schreiben, ist ein bisschen wie einen Norwegerpullover stricken. Welche Farben nimmt man hinein? Wie wird das Muster abwechslungsreich, bleibt aber harmonisch? Vollständigkeit ist schier unmöglich.

Da ist zum Beispiel Helga, die Biologin, die den Passagieren ein Fell zeigt. Es gehörte ihrer verstorbenen Lieblingshündin, und sie hat es, einer Tradition folgend, als Ehrerweisung selbst gegerbt, sodass die Hündin sie weiterhin begleitet. Dann ist da der Vortrag von Øystein Knoph, PR-Manager von Hurtigruten. Er ist das erste Mal auf Grönland und wandert auf den Spuren eines Vorfahren – seines Großvaters Gunnar Kielland Knoph. Der verbrachte in den 20er-Jahren zwei Jagdwinter in Grönland. Wie hart dieser Broterwerb war, zeigen Briefe die der damals Mittzwanziger seiner Mutter aus der Fremde schrieb.

Das einzige Gewächs hier ist die Arktische Weide

Auch Niels war schon mal für längere Zeit im Ausland. Zwei Jahre, im Alter von 16 bis 17, besuchte er eine Schule in Dänemark. Viele seiner Freunde, sagt er, kennen gar keine Städte oder Züge. Wie es in Dänemark war? „Irgendwie hab ich mich leer gefühlt. Dort grüßen sich die Leute nicht. In Grönland grüßt man jeden.“ Er hat trotzdem Freunde gefunden. Dass er gern spricht, hat er wohl vom dänischen Vater. Grönländer, sagt er, seien eher still und schüchtern. „Ach“, sagt er, „eins war klasse in Dänemark: Ich bin auf Bäume geklettert – die gibt es hier am Scoresbysund nicht.“ Tatsächlich kriecht das einzige baumähnliche Gewächs hier, die Arktische Weide, mit astähnlichen Auswüchsen am Boden entlang.

Hat Niels, wie Yngve damals, sich gefreut, als er 2002 erstmalig ein Kreuzfahrtschiff sah? „Ich hab mich gewundert. So ein großes Schiff hatte ich noch nie gesehen, die Menschen gaben komische Laute von sich, ich dachte, die machen Quatsch. Aber mein Vater sagte, das sei ihre Sprache, Russisch. Ich kannte nur West- und Ostgrönländisch und Dänisch.“ Die Frage, ob sie hier schlafen würden, verneinte der Vater. „Sie fahren wieder.“ „Ok, dann gehen sie jagen?“ „Nein, sie jagen nicht.“ „Aber warum sind sie hier, wenn nicht zum Jagen?“

Wir frohlocken, kleiner Niels, über die wunderschöne Natur in deiner Heimat.