Berlin. „Big Data“ ist eines der Themen beim Weltkongress der Psychiatrie. Die Nutzung eines Handys kann sehr viel über den Besitzer verraten.

Wohin wir gehen, wie viele Nachrichten wir schreiben, wann und wie lange wir telefonieren, wie viele Schritte wir tun – das Smartphone oder die smarte Uhr wissen es. Und sie bergen damit für die psychiatrische Wissenschaft einen bislang weitgehend ungenutzten Schatz: Daten, die bei Dia­gnose, Therapie oder Prävention von Erkrankungen helfen könnten.

„Big Data und Psychiatrie“ ist auch eines der Themen, die im Rahmen des 17. Weltkongresses der Psychiatrie, bei dem noch bis Donnerstag rund 10.000 Psychiater in Berlin zusammenkommen, diskutiert werden. Die Fragestellung: Wie können Daten bei der Therapie, aber auch bei einer frühzeitigen Diagnose von psychischen Erkrankungen helfen?

Häufige Telefonate können auf Manie hinweisen

„Das ist hochgradig interessant für uns“, sagt Psychiater An­dreas Meyer-Lindenberg, Direktor am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI), einem psychiatrischen Forschungszentrum in Mannheim. So lässt sich aus GPS-Ortungsdaten eine beginnende Demenz ablesen oder weist die Häufigkeit von Telefonaten auf den Beginn einer manischen Episode hin.

Einer der Ersten, der das Potenzial von Daten erkannte, war der deutsche Psychiater Emil Kraeplin. Er legte Ende des 19. Jahrhunderts für jeden seiner Patienten eine Karteikarte an. Und vermerkte darauf über Jahre hinweg seine Beobachtungen und die Entwicklungen, die ein Erkrankter durchlief. War die Diagnose einer psychischen Störung bis dahin nur die Momentaufnahme von Symptomen, sammelte Kraeplin systematisch Daten und konnte so ein differenziertes Krankheitsbild erstellen.

Menschliches Genom ist ein hochvolumiger Datensatz

Es war der Beginn des datengetriebenen Ansatzes, eine Revolution in der psychiatrischen Wissenschaft. „Bis heute hat sich die Datenmenge nur moderat erhöht“, sagt Meyer-Lindenberg. Natürlich gebe es bildgebende Verfahren, die hinzugekommen seien, aber „normalerweise passt die Datenmenge eines Patienten heute auf einen USB-Stick“.

Doch das könnte sich ändern. Dabei spielen auch Entwicklungen auf anderen Gebieten der Forschung eine Rolle, etwa die Epigenetik oder die Entschlüsselung des Genoms, also des Erbguts. „Unser Genom ist ein hochvolumiger Datensatz, der uns viel über die Entstehung von psychischen Erkrankungen verraten kann“, sagt Meyer-Lindenberg.

Computer machen in Daten Muster ausfindig

Auch der junge Forschungsbereich der Epigenetik wird für das Verstehen dieser Erkrankungen immer wichtiger. Die Epigenetik beschreibt Änderungen an Genen, die nicht durch Mutationen, sondern etwa durch Umwelteinflüsse ausgelöst werden. So kann Stress bei einem Menschen mit entsprechenden Umwelterfahrungen später zu einer Panikstörung beitragen.

Das menschliche Genom, Epigenetik, bildgebende Verfahren – daraus ergeben sich hochkomplexe Datensätze, die zu sogenannten Biomarkern zusammengefügt werden können. Mithilfe des sogenannten Machine Learning, also des Wissens, das von Computerprogrammen erzeugt wird, können Computer in diesen Daten Muster ausfindig machen, die für Diagnose und Therapie relevant sein könnten. Bei Erkrankungen wie Schizophrenie und Autismus gibt es bereits Fortschritte.

Menschen mit Demenz gehen Umwege

Neben diesen klinisch erhobenen Daten geht es aber eben auch um Informationen aus der Lebenswelt der Menschen, die neue diagnostische Möglichkeiten eröffnen könnten. So konnten Wissenschaftler in einer Studie zeigen, dass sich Demenzen bereits in einem sehr frühen Stadium an Bewegungsmustern von Versuchsteilnehmern ablesen lassen.

„Menschen mit einer Demenz haben eine andere Art zu navigieren“, erklärt Meyer-Lindenberg. Sie gehen Umwege, die ein Gesunder nicht gehen würde. „Diese ganz subtilen Ineffektivitäten treten sehr früh auf, werden aber kaum wahrgenommen.“ Mithilfe von Bewegungsdaten wäre das möglich. Auch als therapeutische Kontrolle könnten diese Bewegungsprofile dienen.

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    Sie könnten zeigen, ob Medikamente im Alltag tatsächlich wirken. Es gibt außerdem Befunde, dass sich eine neu beginnende manische Episode andeutet, wenn die Betroffenen plötzlich mehr Kurznachrichten schreiben oder telefonieren.

    „Was haben Sie am vergangenen Mittwoch gegessen?“

    Natürlich sollte die Auswertung dieser Daten das persönliche Gespräch zwischen Patient und Therapeut oder Psychiater nicht ersetzen, doch sie könnten laut Meyer-Lindenberg die Dinge präzisieren. „Versuchen Sie sich daran zu erinnern, was Sie am letzten Mittwoch zu Mittag gegessen haben – es ist kaum möglich, oder Ihre Erzählung wird ungenau“, sagt er.

    Der Psychiater nennt ein konkretes Beispiel: Leidet jemand etwa unter Platzangst und soll seinem Therapeuten von einer konkreten Situation berichten, erinnert er sich häufig nicht mehr. Telefone, die über GPS-Satelliten den Ort aufzeichnen, an dem sich der Patient befindet, schon.

    Datenzugriff nur mit Zustimmung des Patienten

    „Mit dem Einverständnis des Patienten könnte man also Situationen nachvollziehen und besprechen“, sagt Meyer-Lindenberg. Wo genau war der Patient zum Zeitpunkt des Panikanfalls? Mehr noch: Der Therapeut könnte auch in der Situation selbst intervenieren, etwa eine SMS schicken oder anrufen. „Es ist Therapie in der Lebenswelt des Patienten.“

    Selbstverständlich gehe das nur mit einer Zustimmung des Patienten, sagt Meyer-Lindenberg. „Und es muss klar sein, dass der Patient der Besitzer seiner Daten ist.“ Grundsätzlich seien die rechtlichen und technischen Rahmenbedingungen für die Datensicherung in Deutschland da, „man muss sie nur nutzen“. Zum Beispiel müssten die hochsensiblen Daten verschlüsselt werden für den Fall, dass das Smartphone in fremde Hände gelangt.