Rom/Ludwigsburg. Biologen entlocken alten Büchern nach Jahrhunderten die letzten Geheimnisse. Aus dem Pergament isolieren die Forscher DNA von Menschen.

Der Mann hatte offenbar ein sehr inniges Verhältnis zu seinem Gebetbuch. Vor vielen Hundert Jahren lebte in den Niederlanden ein Priester, der wieder und wieder eine Abbildung von Jesus Christus am Kreuz küsste. Das „Messbuch der Haarlem Leinenwebergilde“, das etwa um 1400 entstand, gibt es noch heute. Forscher gehen davon aus, dass Reste von Spucke und Nasensekret des Priesters immer noch an der Seite mit dem Jesus-Bild kleben. Sie hoffen, DNA des Mannes zu finden und so mehr über ihn herauszubekommen. Welche Haar- und Augenfarbe hatte er? An welchen Krankheiten litt er, mit wem war er verwandt?

Solche Analysen werden durch neue Methoden möglich, mit denen alte Bücher und Manuskripte untersucht werden können, ohne sie zu schädigen. Sehr alte Schriftstücke sehen oft unansehnlich aus. Sie sind fleckig – Bakterien, Schimmel und Feuchtigkeit haben ihnen über die Jahrhunderte zugesetzt. Kleine Käfer fraßen Löcher in Einband und Pergament. Nicht zuletzt hinterließen Menschen ihre Spuren. Für Konservatoren ein Albtraum, macht das die alten Werke für Biologen zu kleinen Schatzkisten.

Forscher versuchen die Geschichte des Buches zu erklären

Sie entlocken ihnen Geheimnisse früherer Zeiten. Aus welchen Tierhäuten wurde das Pergament gemacht und warum? Welche Insekten waren darin unterwegs, wer vertiefte sich in das Buch? „Forscher können sogar Mikroorganismen isolieren, die auf Manuskripte kamen, weil Menschen darüber küssten, husteten oder niesten“, schreibt Ann Gibbons.

Die „Science“-Korrespondentin hat für das Fachmagazin mit mehreren Forschern gesprochen und sich die Methoden erklären lassen, mit denen sie tief in die Geschichte eines Buches schauen. So hat ein Team um den Biochemiker Matthew Collins fünf Jahre lang ein Lukasevangelium aus dem 12. Jahrhundert unter die Lupe genommen. Das Buch wurde vermutlich von Schriftgelehrten der Abtei St. Augustinus im englischen Canterbury hergestellt.

Forscher erwarten sich von molekularbiologischer Untersuchung Details

Collins, der an der Universität Kopenhagen und der Universität York in Großbritannien forscht, wollte herausfinden, von welchen Tieren die Häute für das Pergament der Buchseiten stammen. Dazu hatte er schon früher eine Technik entwickelt. Pergament besteht zu großen Teilen aus dem Strukturprotein Kollagen. Der Aufbau dieses Stoffes lässt Rückschlüsse auf die Tierart zu. So konnten die Wissenschaftler nachweisen, dass für das Evangelium Häute von verschiedenen Tierarten benutzt wurden. Die meisten Seiten waren aus bearbeiteter Kalbs- oder Lammhaut, einige von der Ziege.

Bislang dachte man laut Collins, dass Ziegenhäute nur in ärmeren Gegenden Verwendung fanden. Forscher erwarten sich von der molekularbiologischen Untersuchung alter Bücher aber noch andere Details. So finden sie auf den Buchseiten eben auch DNA, die von Menschen stammt. Im Fall des niederländischen Priesters steht die Untersuchung aber noch aus. Der Knackpunkt dabei ist, ob ihm mögliche DNA-Spuren direkt zugewiesen werden können. Denn möglicherweise haben auch andere Menschen die Seite mit dem Jesus-Bild berührt.

Geschichte des Soldaten Laurentius Loricatus

Andere Forscher interessieren sich weniger für die Spuren von Menschen als vielmehr um die Entstehung von Flecken, die von winzigen Mikroorganismen stammen. So haben italienische Forscher mit moderner Technik rekonstruiert, wie eine historische Pergamentrolle mit der Zeit immer mehr geschädigt wurde. Das Team um Luciana Migliore von der Tor-Vergata-Universität in Rom unterzog das Ziegenhaut-Dokument aus dem 13. Jahrhundert einer Prüfung.

Die im Fachblatt „Scientific Reports“ vorgestellte Studie gleicht einer Detektivarbeit: Die fünf Meter lange Rolle aus Ziegenhaut aus dem Jahr 1244 erzählt die Geschichte des Laurentius Loricatus, der als junger Soldat einen Mann tötete und sich als Büßer 34 Jahre in eine Höhle bei Subiaco in Rom zurückzog. Das Dokument lag lange unter ungünstigen Bedingungen im Castel Sant’Angelo (Engelsburg) in Rom. Im späten 18. Jahrhundert wurde es in das Vatikanische Geheimarchiv gebracht. Dort lagert es unter optimalen Bedingungen bei Dunkelheit, etwa 20 Grad Celsius und einer Luftfeuchte von 50 Prozent.

Das Rätsel um die purpurnen Flecken

Das Pergament leidet unter typischen Veränderungen solcher Dokumente: einzelne oder zusammenhängende purpurne Flecken, die oft von einer Art Hof umgeben sind und die Lesbarkeit des Textes beeinträchtigen. Die erste und die letzte Seite des zusammengenähten Pergaments sind komplett von solchen Flecken bedeckt, die inneren Seiten an den Rändern mit einer Breite bis sechs Zentimeter.

Bisher habe man nie einen Verursacher der Flecken eindeutig identifizieren können, schreiben die Autoren. Um dies nachzuholen, nutzte das Team nun diverse Verfahren, darunter die Sequenzierung von Mikroorganismen-Erbgut sowie diverse Analysen des Gewebes und der Farbveränderungen. Dabei stießen die Forscher auf Tausende Gensequenzen von Mikroorganismen. Insgesamt rekonstruieren die Forscher folgenden Ablauf: Das Pergament hatte durch die Konservierung der Rohhaut anfangs einen hohen Salzgehalt – insbesondere auf der Innenseite, die nach der Herstellung des Pergaments beschriftet wurde. Dies begünstigte Mikroorganismen wie etwa Halobacteria, die einen gewissen Salzgehalt benötigen.

Schimmelpilze verschlimmern den Zustand des Pergaments

Von ihnen stammen demnach die purpurnen Flecken, die auf das Protein Rhodopsin zurückgehen. Später war das Dokument Licht, Feuchtigkeit, Temperaturwechseln und – bei Überflutungen des Castel Sant’Angelo durch den Tiber – eventuell auch Nässe ausgesetzt. Mit sinkendem Salzgehalt und zunehmender Feuchtigkeit verschwanden die Halobacteria und wurden durch andere Mikroorganismen ersetzt, die wiederum die Rückstände ihrer Vorgänger zersetzten und das Gewebe angriffen. Verschlimmert wurde der Zustand durch den Befall mit Schimmelpilzen.

Insgesamt verursachten die Organismen und auch die häufigen Wechsel zwischen Feuchtigkeit und Trockenheit Brüche im Gewebe und den Verlust beschrifteter Areale. „Die neuen Informationen über Besiedlung und Verfallsprozesse, darunter Schäden an den Kollagenfasern und die chemische Zusammensetzung der purpurnen Flecken, eröffnen neue Perspektiven für die Restaurierung und Konservierung alter beschädigter Pergamente“, schreiben die Forscher. Vor allem Halobacteria, die lange Zeiträume überleben könnten, seien eine mögliche „Zeitbombe“ für alte Pergamentrollen.