Berlin. Auch wenn sie den Schutz durch Kondome nicht ersetzt: Die Tabletten können HIV vorbeugen. Die Verschreibung ist an Bedingungen geknüpft.

Leon S. mag das Wort „Risiken“ und „Sexleben“ nicht. Es klinge so nach Biologieunterricht. Der 35 Jahre alte gebürtige Brite ist schwul, lebt schon lange in einer deutschen Großstadt. Er sagt, er müsse solche Worte benutzen, um zu erklären, warum er seit einem Jahr jeden Morgen um neun Uhr nach dem Frühstück eine hellblaue Pille schlucke. Wörtlich sagt er: „Ich nehme seit einem Jahr PrEP, weil ich über die Risiken in meinem Sexleben wieder mehr Kontrolle haben wollte.“

Besonders unter Homosexuellen geht seit mehreren Jahren die Nachricht von PrEP um, das steht für „Prä-Expositions-Prophylaxe“. Das Versprechen: Mit einer Pille täglich lässt sich die Wahrscheinlichkeit einer HIV-Infektion um rund 90 Prozent senken. In den USA, Aus­tralien und Großbritannien ist PrEP schon länger erhältlich, zum Teil kostenfrei.

In Deutschland kostet eine Monatsdosis des Medikaments „Truvada“, das hierzulande seit Oktober 2016 zugelassen ist, bis zu 800 Euro. Die Krankenkassen übernehmen die Kosten nicht. Nun kommt im Rahmen eines Pilotprojekts ein Generikum auf den Markt. 50 Euro soll es im Monat kosten. Die Zielgruppe sind vorrangig Männer, die Sex mit häufig wechselnden Partnern haben, oft auch ungeschützt.

Regelmäßige Kontrollpflicht alle drei Monate

In Deutschland kostet eine Monatsdosis Truvada bis zu 800 Euro.
In Deutschland kostet eine Monatsdosis Truvada bis zu 800 Euro. © imago/ZUMA Press | Abaca Press

Ute Hiller von der Berliner Aids-Hilfe ist begeistert: „Das ist nicht weniger als ein Durchbruch in Sachen HIV-Prävention“, sagt sie. „Im angelsächsischen Raum sind die Erfahrungen sehr gut und die Infektionsraten zurückgegangen.“ In San Francisco haben sich innerhalb von sechs Jahren rund 20 Prozent weniger Menschen mit HIV angesteckt, seit das Medikament auf dem Markt ist. „Aber auch die Zahl anderer sexuell übertragbarer Infektionen ging deutlich zurück“, sagt sie, „weil mit der regelmäßigen Einnahme von PrEP eine Kontrollpflicht alle drei Monate verbunden ist.“ So könnten etwa auch Syphilis und Tripper früher erkannt werden.

Kritiker befürchten, dass die Verschreibung von präventiv wirkenden Tabletten sexuelles Risikoverhalten wie ungeschützten Sex mit wechselnden Partnern verstärken könnte. Eine Studie („Proud“) der britischen Regierung und des University College London kam jedoch zu dem Ergebnis, dass sich das Sexualverhalten der Probanden durch die Einnahme von „Truvada“ nicht verändert habe.

Schutz durch Kondome wird nicht ersetzt

Die Studienautoren weisen auch darauf hin, dass die Einnahme von PrEP den Schutz durch Kondome nicht ersetze. Sie seien der beste Weg um HIV und anderen sexuell übertragbaren Krankheiten vorzubeugen. Auch die Aids-Hilfe schreibt auf ihrer Internetseite: „Kondome bleiben das wichtigste Mittel zum Schutz vor HIV.“ Nur: Menschen mit einem ohnehin riskanten Sexualleben sind durch die Einnahme besser geschützt.

Um die Kosten von 800 Euro zu umgehen, bestellen Deutsche bisher die Pillen in Indien nach England – und lassen sie sich anschließend schicken. Der Preis liegt pro Monat bei rund 50 Dollar, manchmal noch darunter. Selbst deutsche Fachärzte für Infektionskrankheiten mussten häufig diesen Weg empfehlen, wenn Patienten sie nach PrEP fragten.

Zuvor wurden indische Tabletten ausprobiert

Das störte Erik Tenberken. Der Kölner Apotheker einer Schwerpunktapotheke für HIV begann vor eineinhalb Jahren, sich für eine eigene Produktion von PrEP in Deutschland einzusetzen. „Mein Problem mit den indischen Pillen war, dass keiner wusste, was darin ist und die Abgabe nicht mit einer regelmäßigen Kontrolle durch Ärzte einherging.“

„Das ist nicht weniger als ein Durchbruch in Sachen HIV-Prävention“, sagt Ute Hiller von der Berliner Aids-Hilfe über das neue Preisniveau bei der HIV-Pille.
„Das ist nicht weniger als ein Durchbruch in Sachen HIV-Prävention“, sagt Ute Hiller von der Berliner Aids-Hilfe über das neue Preisniveau bei der HIV-Pille. © imago/Future Image | imago stock&people

Diese regelmäßigen Kontrollen sind nun Teil des Pilotprojekts. Denn eine wichtige Voraussetzung für die Verschreibung von PrEP: Der Patient muss HIV-negativ sein, sonst „könnte er die Gefahr von Resistenzen gegen HIV-Medikamente erhöhen“, sagt Tenberken. „Das wäre der Gau.“

Mit Sonderkonditionen liegt der Preis niedriger

Mit dem Generika-Hersteller Hexal vereinbarte der Apotheker nach eigenen Angaben Sonderkonditionen, die es ermöglichen, das Präparat weit unter dem üblichen Preis abzugeben.

Möglich wird das auch, weil Hersteller Hexal es „als besonderes Engagement“ zu einem günstigen Preis an eine Kölner Firma abgibt, die es nur individuell und nach Verordnung verpacke, wie eine Hexal-Sprecherin erklärt. „Die beteiligten Apotheken verpflichten sich, innerhalb des Projektes definierte Aufklärungs- und Beratungstätigkeiten gegenüber Anwendern zu übernehmen.“ Derzeit wartet Tenberken auf die erste Lieferung.

Sieben Apotheken sind zunächst beteiligt

Angeschlossen an das PrEP-Programm sind zum Start sieben HIV-Schwerpunkt-Apotheken in Berlin, Köln, Hamburg, Düsseldorf, Hannover, München und Frankfurt am Main. Online sind sie HIER aufgeführt.

Die Aids-Hilfe sieht in dem günstigeren Verkauf aber noch nicht alle ihre Wünsche erfüllt. „Wir wollen, dass nicht nur Menschen in Großstädten oder Menschen, die sich 600 Euro im Jahr leisten können, die Chance haben, mit ihrem Körper verantwortungsvoll umzugehen – sondern alle“, sagt Ute Hiller. Sie vergleicht den Effekt, den die PrEP-Freigabe haben könnte, mit dem einer Anti-Baby-Pille. „Auch diese Pille wird nicht ohne ärztliche Begleitung genommen werden, und das wird mit dem sich nun abzeichnenden Weg sichergestellt.“

Leon S. überlegt gerade, die „Pille“ abzusetzen. Es liegt nicht an den Nebenwirkungen, die habe er kaum gespürt. Es liegt auch nicht an der täglichen Tabletteneinnahme. Nein, sagt er, mit Ende 30 ändere sich eben auch das „Sexleben“ und das „Risikoverhalten“.