Berlin. Oft leiden Mütter und Väter, wenn ihre Kinder ausziehen. Wie umgehen mit dem leeren Nest? Forscher raten, sich bewusst abzugrenzen.

Sie würde sofort wieder ihren Mädchennamen annehmen. Nie wieder Ketchup kaufen. Vor dem Fernseher essen. Immer. Pünktlich „Tatort“ gucken. Und das ganze Wochenende mit Bettdecke und Buch auf dem Sofa verbringen. So stellt sich Britta (35) die Zeit vor, wenn ihre zwei Kinder Bela (8) und Toni (15 Monate) eines Tages ausgezogen sein sollten. Doch die Realität, der Tag, an dem die Kleinen Kartons packen, trifft viele Eltern meist härter als gedacht. Das muss aber nicht sein, sagen Experten wie der bekannte Familientherapeut Jesper Juul.

Das Phänomen des sogenannten „Empty Nest Syndroms“, die Angst vor dem „leeren Nest“, ist weltweit verbreitet. Laut einer US-Umfrage leiden 10 Prozent aller Mütter darunter. Die Trauer begleitet die Frauen bis zu zwei Jahre lang. Doch auch Männer können unter dem Fehlen von unaufgeräumten Zimmern und dem Streit übers Ausgehen und das Taschengeld leiden.

Auch Barack Obama trauert, weil Sasha aufs College geht

„Mitten am Tag kommen mir die Tränen, und ich kann mir nicht erklären, warum. Was macht mich so traurig? Sie verlassen mich“, sagte sogar der ehemalige US-Präsident Barack Obama, dessen jüngste Tochter Sasha dieses Jahr auf ein College gehen soll.

„Wenn die Kinder ausziehen, ist das klassische Trauerarbeit, die oft unterschätzt wird“, sagt Bettina Teubert (55) dieser Redaktion. Die Familientherapeutin gründete die Selbsthilfegruppe „Empty Nest Moms“ für betroffene Frauen in Berlin. Die zweifache Mutter weiß natürlich, dass es ein normaler Prozess ist, dass Kinder ausziehen. „Aber obwohl man sich vorbereiten kann, trifft es einen oft unvermittelt wie Liebeskummer.“ Auch mache der Auszug der Kinder den Frauen oft das eigene Alter bewusst. „Früher konnten sich die Mütter zudem damit trösten, dass bald nach dem Auszug schon Enkelkinder kamen“, sagt Teubert. Das sei heute in Deutschland, dem Staat mit der niedrigsten Geburtenrate in der EU, nicht mehr so.

Vor allem Hausfrauen trifft die Trauer

Rund 23 Jahre leben Söhne laut den Zahlen des Statistischen Bundesamtes durchschnittlich im Elternhaus. Töchter bleiben bis 21. Mit 30 wohnen 12 Prozent der Männer und 5 Prozent der Frauen noch zu Hause. Das erste Kind bekommen Frauen in Deutschland durchschnittlich erst mit 32 Jahren. Bleiben also statistisch gesehen rund zehn Jahre enkellose Zeit. Insbesondere Hausfrauen trifft der Umzug ihrer Kinder schwer.

Anne W. (Name geändert) hatte sich nach dem Auszug ihrer jüngsten Tochter eine Liste mit Plänen gemacht: Einen Yogakurs besuchen, Klavierspielen lernen, auswandern und Stadtführer in New York werden. „Doch schon nach Tagen war ich lethargisch, starrte auf das Handydisplay in der Hoffnung auf eine Whats­App-Nachricht meiner Lena.“

Einsamkeit spielt keine Rolle

Beim Empty-Nest-Syndrom spielt der Faktor Einsamkeit übrigens keine Rolle. Ausgerechnet bei Verheirateten steigt das Trennungsrisiko in der Zeit nach Auszug des Nachwuchses Richtung große weite Welt an. „Es steigt kurzfristig sogar auf ein höheres Niveau als bei Paaren, die nie Kinder hatten“, sagt Ingmar Rapp vom Heidelberger Institut für Soziologie. Der Wissenschaftler hat die Stabilität von Paarbeziehungen in der zweiten Lebenshälfte untersucht.

Über die Gründe, weshalb nach dem Wegzug der Kinder das Trennungsrisiko steigt, kann er bislang nur spekulieren. „Eine Möglichkeit ist, dass Kinder Trennungen nur aufschieben – sind sie nicht mehr da, fehlt der Grund, zusammenzubleiben“, sagt Rapp. Deshalb ist der dänische Familientherapeut Jesper Juul überzeugt: „Das Beste, was Väter und Mütter für ihre Kinder tun können, ist, gut auf ihre Beziehung als Paar aufzupassen.“

Eltern dürfen sich als Paar nicht verlieren, sagt Juul

Der Experte rät in seinem neuen Buch „Liebende bleiben – Kinder brauchen Eltern, die mehr an sich denken“ (252 Seiten, Beltz), sich frühzeitig ein autonomes Leben neben seinen noch kleinen Kindern aufzubauen. „Es ist in Ordnung, dass einem der Beruf, die Arbeit zu bestimmten Zeiten wichtiger ist als die Kinder. Deshalb liebt man seine Kinder nicht weniger“, erklärt Juul. „Wenn man das als Eltern klar vermitteln könne, lernen Kinder von diesen, dass es möglich ist, Nein zu sagen und sich abzugrenzen.

Kinder brauchen laut Juul klare Sätze wie „Lass uns einen Moment in Ruhe und geh spielen.“ So bleibe die Paarbeziehung auch dann erhalten, wenn die Kinder einmal eigene Wege gehen.