Berlin. So viele Menschen wie nie zuvor in Europa sind mit dem HI-Virus infiziert. Eine neue WHO-Leitlinie legt die sofortige Medikation fest

In Europa ist die Zahl der Menschen, die sich mit dem HI-Virus neu angesteckt haben, so hoch wie nie. Laut einem Bericht des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) wurden im vergangenen Jahr 142.197 Erstdiagnosen registriert. 2013 waren es 136.235. Am stärksten ist der Anstieg im ost-europäischen Raum, etwa in Russland und der Ukraine.

In Deutschland stagniert die Zahl der Neuinfektionen seit einigen Jahren. Für 2014 schätzt das Robert-Koch-Institut (RKI) ihre Zahl auf 3200. Insgesamt tragen in Deutschland 83.400 Menschen das HI-Virus in sich oder haben Aids. Doch etwa jeder sechste weiß nichts von seiner Infektion. Besonders die Angst vor einer Stigmatisierung hält viele von einem HIV-Test ab. Aus diesem Grund steht am heutigen Welt-Aids-Tag die Aufklärung im Vordergrund. „Hausärzte, Gynäkologen und viele andere Ärzte müssen das Thema öfter ansprechen, damit es selbstverständlicher wird, den Patienten bei Bedarf einen HIV-Test anzubieten“, sagt Annette Haberl, Vorstandsmitglied der Deutschen Aids Gesellschaft (DAIG).

So führt eine HIV-Infektion zu Aids

„Wichtig ist, dass wir für alle Gruppen eine Möglichkeit schaffen, sich testen zu lassen, ohne dass sie Nachteile fürchten müssen“, sagt auch Viviane Bremer, Epidemiologin im Bereich HIV und Aids vom RKI. Besonders außerhalb großer Städte sei das Angebot häufig schlecht. „In ländlichen Regionen müssen die Menschen für den Test teils zu ihrem Hausarzt gehen. Das spricht sich schnell herum“, so Bremer. Fehlende Testmöglichkeiten und Diskriminierung seien auch Ursachen für den starken Anstieg der Infektionen etwa in Russland. „Die Menschen haben Angst, sich testen zu lassen.“

Aids wird von dem Humanen Immunschwächevirus (HIV) ausgelöst, das etwa über Sexualkontakt, Blut oder Muttermilch übertragen wird. Das Virus befällt die Helferzellen im Immunsystem, die für die Abwehr von Krankheitserregern wichtig sind, und vermehrt sich in ihnen. Je weniger Helferzellen vorhanden sind, desto weniger kann das Immunsystem den Körper schützen. Hat das HI-Virus das Abwehrsystem so weit geschwächt, dass es Infektionen nicht mehr bekämpfen kann, spricht man von Aids (Acquired Immune Deficiency Syndrome). In der Folge können auch sonst eher harmlose Krankheiten für Patienten lebensbedrohlich werden.

Medikamente könnten das Ansteckungsrisiko mindern

Bis heute ist Aids nicht heilbar, doch das Virus ist beherrschbar – mit einer Kombinationstherapie sogenannter antiretroviraler Medikamente. Sie sollen einerseits verhindern, dass das Virus in die Zellen eindringt, andererseits, dass es dort das Kommando übernimmt. Betroffene müssen die Medikamente ein Leben lang einnehmen.

Eine frühe Gewissheit über eine mögliche Infektion ist überlebenswichtig. „Infizierte, die eine frühzeitige Therapie erhalten, haben eine so hohe Lebenserwartung wie Menschen ohne HIV“, erklärt Viviane Bremer. Die hohe Anzahl von Neu-Infizierten sehen Experten jedoch als Zeichen, dass auch die Prävention gestärkt werden muss. „Aufklärungskampagnen und Appelle, beim Geschlechtsverkehr Kondome zu benutzen, haben nicht dazu geführt, dass die Zahl der Neuinfektionen in Deutschland zurückgegangen ist“, sagt der Hamburger HIV-Experte Professor Andreas Plettenberg. Eine der vielversprechendsten Methoden ist die sogenannte PrEP (Präexpositionsprophylaxe).

PrEP-Medikamente sind in Deutschland noch nicht zugelassen

Dabei nehmen nicht infizierte Menschen, die sexuelle Kontakte zu HIV-positiven Personen haben, Medikamente, die eine Ansteckung verhindern. „Studien haben gezeigt, dass man dadurch das Infektionsrisiko um 80 bis 90 Prozent senken kann. In den USA sind einzelne HIV-Medikamente für die PrEP zugelassen, in Europa bisher noch nicht“, sagt Plettenberg. Aber aktuell werde auf Kongressen diskutiert, ob eine solche Zulassung auch hierzulande nicht sinnvoll wäre. Bis dahin sind aber noch einige Fragen zu klären, zum Beispiel, wer diese Medikamente erhalten soll. Gegenwärtig wird die PrEP von Experten für Männer mit sehr hohem Übertragungsrisiko empfohlen, also jene, die nicht infiziert sind, aber oft ungeschützten Sex mit HIV-positiven Männern haben.

Im September dieses Jahres änderte auch die Weltgesundheitsorganisation WHO ihren Kurs radikal. Sie schrieb in ihren Leitlinien fest: Ab sofort solle jeder Mensch, bei dem eine HIV-Infektion festgestellt wird, unverzüglich Medikamente erhalten. Zuvor wurden Medikamente in der Regel erst empfohlen, wenn die Zahl der Helferzellen unter 350 pro Mikroliter Blut gesunken war. Generell gelten mehr als 500 bis 600 Helferzellen pro Mikroliter als normal.

Neue WHO-Strategie: Alle Infizierten sofort behandeln

Auslöser für den Strategie-Wechsel war die sogenannte START-Studie (Strategic Timing of Antiretroviral Treatment) mit fast 5000 Teilnehmern. „Dabei wurden auch HIV-Positive mit mehr als 500 Helferzellen behandelt, also in einem frühen Stadium“, erklärt Annette Haberl. Im Mai 2015 wurde die Studie, ein Jahr vor dem geplanten Ende, abgebrochen, weil deutlich war, dass die Patienten mit der frühen Therapie in allen Bereichen profitierten. „Die Patienten, die nach den bis dahin geltenden Leitlinien behandelt wurden, also in der Regel erst bei weniger als 350 Helferzellen, hatten deutlich häufiger HIV- bedingte, aber auch nicht HIV-bedingte Erkrankungen“, sagt Haberl.

Die WHO reagierte, ihre neue Empfehlung hat weltweite Konsequenzen: Die Zahl der HIV-Infizierten, die Medikamente brauchen, steigt damit von bisher 28 auf 37 Millionen. In Deutschland wurde die Leitlinie noch nicht aktualisiert, sie wird derzeit noch überarbeitet. Haberl geht davon aus, dass sie spätestens im März, bei der nächsten Tagung der Deutschen AIDS Gesellschaft verabschiedet wird. Viviane Bremer: „Bei uns sind ohnehin schon die meisten Infizierten unter Therapie.“

2020 sollen 90 Prozent aller Diagnostizierten eine Therapie erhalten

Laut RKI werden bereits 82 Prozent der diagnostizierten HIV-positiven Menschen in Deutschland behandelt. Eine Quote, die dem sogenannten „90, 90, 90“-Ziel der Vereinten Nationen nahe kommt. Demnach sollen bis zum Jahr 2020 90 Prozent aller weltweit Infizierten diagnostiziert sein, wiederum 90 Prozent von ihnen sollen eine Therapie erhalten, und von den Therapierten sollen 90 Prozent eine so geringe Viruslast haben, dass sie nicht nachweisbar ist.

„Ambitioniert, aber gut“, nennt Viviane Bremer das gesteckte Ziel. Die WHO ist zuversichtlich. Ihre Botschaft zum Welt-Aids-Tag: Der Kampf gegen Aids mache weltweit Fortschritte. Seit 2000 sei die Zahl der Neuansteckungen mit zwei Millionen im Jahr 2014 um 35 Prozent gesunken. Die Vereinten Nationen sprechen sogar von „außergewöhnlichen Fortschritten“, denn nie zuvor hätten so viele HIV-Infizierte eine Chance auf eine Therapie, die ihr Leben verlängern und die Gefahr von Übertragungen vermindern kann. 15,8 Millionen Menschen werden derzeit mit antiretroviralen Medikamenten behandelt – eine Verdopplung seit 2010.