Studie: Ein Londoner Historiker untersuchte die Ursachen für das Bild vom häßlichen Deutschen. Ihre Identitätskrise nach dem Verlust des Empires haben sie noch längst nicht überwunden, analysiert Professor Ramsden in seinem Buch “Don't mention the War“. So gesehen hadern die Engländer weniger mit den Deutschen als mit sich selbst . . .

London. 100 000 englische Fußball-Fans rüsten sich zum Schlachtenbummel nach Deutschland. Die britischen Massenmedien haben bereits zum Anpfiff geblasen. Und wieder ist das Feindbild so klar wie das rote Tuch für den Stier in der Arena: "Beat the Germans" lautet die Kampfparole, als könnte es nichts anderes geben als ein Endspiel Englands gegen Deutschland. Ganz gleich, wer der Sieger in einem solchen Finale wäre: Deutschland ist und bleibt auf jeden Fall Verlierer. Der vielbeschworene Sinn der Engländer für Fairplay kann an diesem Feindbild wenig ändern.

Doch nun, da einmal mehr die Wogen hochgepeitscht werden, meldet sich eine Stimme der Vernunft. Im Dickicht der Verteufelung der Deutschen hat sich als Spurensucher der angesehene britische Historiker John Ramsden umgetan. Der Professor am Queen Mary College der Londoner Universität legte die erste bis in die Gegenwart reichende Untersuchung des Verhältnisses der Briten zu den Deutschen vor. Die Beziehungen der Deutschen zu den Briten, betont er, sei aus deutscher Sicht zu schreiben. Ihm geht es um mehr als Fußball.

Er analysiert die Rolle von Presse, Fernsehen und Film, er untersucht die Literatur bis hin zu Reißern von Le Carre und Len Deighton, er beschreibt das Deutschen-Bild führender Politiker und forscht bis zur Basis, bis zum Geschichts- und Deutschunterricht an den Schulen.

Dabei gelangt er zu klärenden Hypothesen. Den ersten Knick im Verhältnis Englands zu Deutschland ortet er in den 90er Jahren des vorletzten Jahrhunderts, als Europas takt- und rücksichtslosester Monarch Kaiser Wilhelm II. den lange bewährten "Lotsen" Fürst Bismarck von Bord des Staatsschiffs jagte, das fortan ohne Lotsen mit Volldampf in die Geschichte stampfte. Machthunger, Großmannssucht der Flottenrüstung und das deutsche "Wirtschaftswunder" der Jahrzehnte vor 1914 brachten Europa aus der Balance und Deutschland auf Kollisionskurs zu England.

Den zweiten Knick sieht Ramsden in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts: Zunächst habe nach den Weltkriegen England den roten Faden der traditionell engen Bande zu Deutschland wiederaufgenommen, doch dann habe Westdeutschland auf der Welle eines neuen Wirtschaftswunders den Engländern den Rang abgelaufen.

Es ist bezeichnend, daß Ramsdens Verlag "Little, Brown" seiner Analyse den Titel gab: "Don't mention the War" (Bloß nicht den Krieg erwähnen). Denn so lautet ein zum geflügelten Wort gewordener gezielter Ausrutscher des Komikers John Cleese in der TV-Serie "Fawlty Towers", einem der größten Erfolge in Englands TV-Geschichte. Natürlich erwähnte Basil Fawlty den Krieg, und wie! Bemerkenswert ist auch, daß der Verlag als Umschlagbild ein Foto aus dem Film "It Happened Here" (1966) wählte, das deutsche Soldaten nach einer geglückten Invasion Englands vor Londons St.-Paul's-Kathedrale zeigt.

Ramsden formuliert den Ausgangspunkt seiner Diagnose so: Er sei sich "im höchsten Grade bewußt, in einem Lande zu leben, in dem sich Deutsche oft unwillkommen und unbeliebt fühlen, in dem sie manchmal beschimpft und gelegentlich auf der Straße tätlich angegriffen werden". Noel Cowards "Being beastly to the Germans" (garstig sein zu den Deutschen) sei allgemein akzeptiert, Engländer hätten geradezu "Zwangsvorstellungen" im Blick auf Deutschland und die Deutschen.

Die Passagen über die einst so enge kulturelle Verbundenheit der beiden Nationen können traurig stimmen, weil sie den Verlust eines gemeinsamen Kulturerbes in Philosophie, Literatur und Kunst bewußt machen. Vor 1890, als die Begriffe "Rasse" und "rassisch" noch nicht als "rassistisch" vorbelastet waren, sahen sich die Engländer als Angelsachsen mit ihrem germanischen Herkunftsland wie durch eine Nabelschnur verbunden. Der junge Winston Churchill und der Empire-Builder Cecil Rhodes verstanden solche Affinität gar als "Pan-Anglo-Saxonismus". Die Heirat von Königin Victorias ältester Tochter Vicky mit Preußens Kronprinz Friedrich war nur eine von vielen dynastischen Heiraten mit deutschen Fürstenhäusern. Alle englischen Monarchen von 1714 bis 1901 waren mit Deutschen verheiratet. Victoria konnte ihren Enkel Wilhelm (den späteren Kaiser) allerdings schon als Knaben nicht ausstehen.

Besonders eng waren die anglo-preußischen Beziehungen während der napoleonischen Kriege. Mindestens so wichtig wie Blüchers Eingreifen in Waterloo 1815 war die wenig bekannte Tatsache, daß die Mehrzahl von Wellingtons Soldaten keine Engländer, sondern Deutsche, Belgier und Holländer waren. Nicht nur in London gab es (bis 1917) einen Pub mit dem Namen Frederick the Great samt Konterfei des Alten Fritz.

Unbehagen machte sich in England erst angesichts der deutschen "Wiedervereinigung" nach dem Krieg Preußens gegen Frankreich 1871 breit, und es ist nicht ohne Ironie, daß diese Skepsis bei der Wiedervereinigung 1990 wiederkehrte.

"Von Volk zu Volk gibt es ein Problem", überschreibt Historiker Ramsden sein aufschlußreiches Schlußkapitel. Handgreiflichstes Indiz für dieses "Problem" biete der Fußball. Seit den 70er Jahren "haben sich sportliche Wettkämpfe Englands gegen Deutschland zu einer symbolgeladenen Schlacht der Nationen gewandelt". Wohlgemerkt: Ramsden untersucht lediglich die englische Seite der Medaille. Der Hurra-Patriotismus englischer Soccer-Fans und ihre die Großtaten Englands im Zweiten Weltkrieg verherrlichenden Schlachtgesänge sind im internationalen Fußball ohne Beispiel. Sie singen den "Dambuster-Song" über die aus dem gleichnamigen Kriegsfilm sehr bekannte Bombardierung der Möhne-Talsperre. Sie singen den Song "Ten German Bombers" und andere, die bei uns auf dem Index der Ausländerfeindlichkeit stehen würden.

Die Statistik spricht Bände: Von 1930 bis 1966 gewann England gegen Deutschland sieben Fußballspiele (Deutschland null, ein Match unentschieden). Dagegen war Deutschland zwischen 1968 und heute elfmal Sieger, England nur viermal (bei zweimal unentschieden).

Ramsden bringt Licht in die Hintergründe dieses Vorgangs: England als Siegerland des Zweiten Weltkriegs verlor in den 40er und 50er Jahren sein Empire und schrumpfte zu europäischer Randlage. Das Trauma der Nation: "Großbritannien hatte seine post-imperialistische Identität noch nicht gefunden." Die Folge war eine Identitätskrise, die sich inzwischen im Zuge der Regionalisierung weiter vertieft hat. Die Landesteile Schottland und Wales (eigene Parlamente) und der Sonderfall Nordirland knüpften mühelos an ihre "nationale" Geschichte an (wie sie sich in den vier Nationalmannschaften der Britischen Inseln spiegelt). England dagegen schrumpfte zum zweiten Mal und fiel ins Leere. Englische Identitätssuche ist derzeit ein großes Thema. So gesehen haben die Engländer weniger ein Problem mit den Deutschen als mit sich selbst.

Eine Umfrage über das Selbstverständnis der Nation brachte die Bedeutung der eigenen Geschichte an den Tag. 59 Prozent sehen Englands Auftreten gegen Nazi-Deutschland 1940 als "wichtig für die Definition des Selbstverständnisses" an. Aus dieser Sicht überrascht es nicht, wenn der Fußball Munition aus Kriegszeiten bezieht und zum Symbolträger für Schießen, Bomben, Treffen, Sieg und Niederlage hochstilisiert wird.

Der britische Innenminister hat die Fans gewarnt, daß sie Verhaftung und Gefängnis riskieren, wenn sie in Deutschland bei Hitler-Gruß, Sieg-Heil-Rufen und Stechschritt erwischt würden. Alles Gesten, die im britischen Fernsehen gang und gäbe sind. Und das Deutschland-Bild der englischen Jugend basiert überwiegend auf der einseitig negativ-chauvinistischen Tendenz britischer TV-Produktionen und der Boulevardpresse, was Ramsden detailliert herausarbeitet. Eine Untersuchung des TV-Senders Channel 4 brachte 2005 an den Tag, daß elf der hundert in England erfolgreichsten Filme im Zweiten Weltkrieg spielen.

Ramsden stellt die Diagnose einer verbreiteten "Germanophobie". Es ist nicht die Aufgabe des Historikers, auf Abhilfe zu sinnen. Aber er gibt einen wichtigen Hinweis: Den Deutschen komme keineswegs Ausschließlichkeit zu. Antideutsche TV-Serien, Filme und eben der Sport gehörten in den größeren Kontext der "Europafeindlichkeit", die Politiker als "Europa-Skepsis" bemänteln. Da 70 Prozent der Briten beim Euroland außen vor bleiben wollen, ist der jahrhundertealte Geist der "Splendid Isolation" ungebrochen. Bis zum "ersten Knick" mit Deutschland um 1890 war Frankreich Buhmann Nummer eins, was sich bis zum 1453 beendeten Hundertjährigen Krieg zurückverfolgen läßt und in Englands Folklore bis heute nachwirkt. Die Franzosen haben ein zu gesundes Selbstbewußtsein, um es dem "perfiden Albion" allzusehr nachzutragen.

Ramsdens Buch legt das Fazit nahe: Statt deutscher Kraftakte, sich im Ausland beliebt zu machen, gehe man lieber zur pragmatischen Devise über - "Gut Ding will Weile haben".