Berlin. Russland hat weitere Kräfte verlegt, die westlichen Partner der Ukraine verstärken die Verteidigung mit Panzern und Flugabwehr. Ein Insider der Militärhilfe erklärt, wie er die Lage sieht.

Ein Jahr nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs steckt der Verteidigungskampf der Ukrainer nach Einschätzung des deutschen Brigadegenerals Christian Freuding in einer schwierigen Phase.

Der Leiter des Sonderstabes Ukraine im deutschen Verteidigungsministerium verwies auf eine erkennbare Lernfähigkeit der russischen Militärführung. „Wir wissen auch, dass die Ukrainer nicht mehr in der Lage sind, ihre Verbände nur mit Freiwilligen aufzufrischen, sondern dass sie jetzt ganz gezielt Reservisten in unterschiedlichen Graduierungen einziehen. Das deutet darauf hin, dass sie derzeit unter Druck sind“, sagte Freuding der Deutschen Presse-Agentur.

Der General koordiniert die deutsche Militärhilfe praktisch. Der 51-Jährige war zuvor Kommandeur der Panzerlehrbrigade 9 in Munster.

Freuding verwies auf die erbitterten Kämpfe um die ostukrainische Stadt Bachmut, die als Symbol eine Geschichte habe, die weit über den aktuellen Krieg zurückreiche. Im Dezember hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj dem US-Kongress eine Flagge aus der Frontstadt übergeben.

„So gesehen ist das, was wir jetzt da sehen, sicherlich mehr als der taktische Kampf um die Stadt Bachmut und Umgebung. Die Stadt hat aber auch eine rein taktische Bedeutung. Wenn man sich die Straßenverbindungen ansieht, dann sieht man, dass der Verlust von Bachmut und der weiter westlich gelegenen Kreisstraße bedeuten würde, dass die Versorgung der ukrainischen Truppen sehr viel schwieriger werden würden“, sagt Freuding. „Die ukrainischen Truppen müssten Gelände aufgeben in einer Tiefe von bis zu 30 Kilometern.“

Ukrainer sind taktisch sehr geschickt

Die geplante Verstärkung mit westlichen Kampfpanzern und Schützenpanzern werde die Ukrainer in die Lage versetzen, örtlich begrenzt Überlegenheit zu schaffen, sagte Freuding. „Sie werden dann sowohl in der Verteidigung als auch im Angriff Erfolge erzielen können.“ In der Breite sei ein Vorstoß dagegen schwierig. Er verwies auf die Länge der Frontlinie von 1200 Kilometern. Die Ukrainer hätten aber bewiesen, dass sie taktisch sehr geschickt vorgehen können. „Und das müssen sie auch mit dem neu zulaufenden Gerät versuchen. Ich denke, dass es unsere Aufgabe ist, die Aufgabe aller Partner und Nationen, sie bis zu einem gewissen Maße zu dem zu befähigen, was wir Gefecht der verbundenen Waffen nennen: das Zusammenwirken aller Waffengattungen auf der Ebene Großverband, Brigade.“

Die Front rund um Bachmut ist schwer umkämpft.
Die Front rund um Bachmut ist schwer umkämpft. © Libkos/AP/dpa

Eine besondere Bedeutung haben aus Sicht des Generals die von Russland eroberten Gebiete, die eine Landbrücke zur annektierten Halbinsel Krim bilden. „Wenn man von den Ebenen der Operationsführung - taktisch, operativ, strategisch - ausgeht, dann würde ich die Landbrücke zur Krim als operatives Ziel bezeichnen. Es ist sicherlich eines, das im Mittelpunkt der Überlegungen der Ukrainer steht, weil sie damit ihr politisch-strategisches Ziel, nämlich das Wiedergewinnen der territorialen Integrität, unterstreichen können“, sagte Freuding. „Gleichzeitig würden sie mit dem Zerschneiden der Landbrücke auch erreichen, dass die russischen Truppen vermutlich auch den ganzen Teil der Landbrücke westlich von Saporischja zur Krim hinführend nicht lange würden halten können.“

Warum sind die russischen Angreifer zurückgefallen?

Der General machte auch auf Veränderungen im Vorgehen der russischen Militärführung aufmerksam. Zu Beginn habe Russland auf bataillonstaktische Gruppen gesetzt, die sehr darauf angelegt waren, die unterschiedlichen Truppengattungen auf unterer Ebene zusammenzuführen. „Das kriegen sie nicht hin, da fehlt der Ausbildungsstand, da fehlen die Fähigkeiten, da fehlen die Kommunikationsmittel“, sagte er. Deshalb seien die russischen Angreifer zurückgefallen in die sowjetische Militärdoktrin mit einer Regimentsgliederung.

„Man hat am Anfang gesehen, dass die Angriffe, die vorgetragen wurden, viel zu unkoordiniert vorgetragen wurden. Das hat man durch Masse und durch Massenrekrutierung, durch den Einsatz der Söldnertruppen kompensiert“, sagt er. „Wir sehen allmählich eine Lernfähigkeit, wichtige Logistikpunkte, wichtige Gefechtsstände und Führungseinrichtungen der Reichweite des gegnerischen Feuers zu entziehen. Das aber überdehnt die Versorgungslinien und macht sie auch anfälliger. Sie sehen aber überall da, wo die Russen das nicht tun, da werden sie empfindlich von den Ukrainern getroffen.“

„Russische Rhetorik ist sehr ernst zu nehmen“

Deutlich wird auch: Die westlichen Militärs hören bei den russischen Verlautbarungen sehr genau hin. „Wenn wir eins im letzten Jahr gelernt haben, ist es: Die russische Rhetorik ist sehr ernst zu nehmen, nichts auf die leichte Schulter zu nehmen“, sagte Freuding. Rein militärisch erkenne er derzeit keine Indikatoren, dass ein großangelegter Angriff zum Beispiel aus Belarus zu erwarten sei. Die Gefahr binde dort aber ukrainische Truppen. Auch sehe er keine russischen Kräfte, die in der Lage wären, derzeit überraschend eine Landbrücke bis nach Transnistrien herzustellen. In der von Moldau abtrünnigen Region sind seit den 1990er-Jahren russische Soldaten stationiert.

Freuding sagte, erkennbar sei für ihn das klare russische Ziel, den Donbass in Gänze zu erobern. „Politisch ist es damit für Russland aber nicht getan. Solange dieser imperiale Anspruch Russlands besteht, solange müssen wir darauf eingestellt sein, dass versucht wird, diesen imperialen Anspruch durchzusetzen, auch mit Gewalt. Das ist für mich - sehr kurz - die große Lektion des 24. Februar.“