Berlin. Die Mathematik- und Deutschkompetenzen vieler Grundschulkinder sind erschreckend schlecht, wie Tests gezeigt hatten. Auf der Suche nach Lösungen legen Bildungsforscher der Politik nun Empfehlungen vor.

Jedes fünfte Grundschulkind in der vierten Klasse hat ernste Probleme mit Lesen, Schreiben und Rechnen. Diese Erkenntnis aus jüngsten Bildungstests hat Politik und Gesellschaft aufgeschreckt. Wie gegengesteuert werden kann, dafür haben Bildungsforscher am Freitag einen umfangreichen Maßnahmenkatalog präsentiert. Die Vorschläge wurden von Experten begrüßt. Bildungspolitiker sagten eine möglichst zügige Umsetzung zu.

Die „alarmierenden Befunde“ aus den Grundschulen müssten als Weckruf verstanden werden, erklärten die Wissenschaftler Felicitas Thiel und Michael Becker-Mrotzek anlässlich der Vorstellung ihres Gutachtens für die Kultusministerkonferenz (KMK), das sie am Freitag in Berlin gemeinsam mit KMK-Vertretern vorstellten. Die beiden Experten gehören zur „Ständigen Wissenschaftliche Kommission“ (SWK), ein bei der KMK angesiedeltes Beratergremium aus 16 Bildungsforschern, die regelmäßig Empfehlungen für die Bildungspolitik in Deutschland erarbeiten.

Befund: Teilweise fehlen grundlegende Kompetenzen

In dem Gutachten kommen die Forscher zunächst zu einem harten Befund: Der Grundschule gelinge es in vielen Fällen nicht, grundlegende Kompetenzen an alle Kinder zu vermitteln. Der IQB-Bildungstrend und die Kindergesundheitsstudie (Kiggs) des Robert Koch-Instituts hatten gezeigt, dass etwa jeder fünfte Viertklässler Mindeststandards in Deutsch und Mathematik nicht erreicht und fast jedes vierte sieben- bis zehnjährige Kind ein erhöhtes Risiko für psychische Auffälligkeiten zeigt.

Neben dem Lehrkräftemangel gehört das Thema zu den aktuell brennendsten in der Bildungspolitik. Es sei für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung von entscheidender Bedeutung, sagte KMK-Präsidentin Karin Prien (CDU) am Freitag. Denn es geht um langfristige Effekte: Grundschüler, die beim Übergang auf die nächsthöhere Schule nicht richtig lesen, verstehen, schreiben und rechnen können, werden es auch auf dem weiteren Bildungsweg bis hin zum Abschluss schwerer haben und wahrscheinlich auch im Leben insgesamt. In Zeiten von Arbeitskräfte- und Fachkräftemangel ist die Gesellschaft aber mehr denn je auf Nachwuchs mit guter Bildung und Ausbildung angewiesen.

Es müsse in Rechnung gestellt werden, dass sich die Rahmenbedingungen für Bildung in den Grundschulen in den vergangenen Jahren deutlich verändert hätten, heißt es in dem Gutachten. Das gelte beispielsweise für den wachsenden Anteil an Kindern, deren Familiensprache nicht Deutsch sei. Das betrifft demnach jedes fünfte Kind in der Gruppe der Drei- bis Sechsjährigen.

Welche Maßnahmen sollen helfen?

20 Maßnahmen schlagen die Experten vor, um den Negativtrend bei den Mathematik- und Deutschkompetenzen der vergangenen Jahre umzukehren und der Entwicklung von Verhaltensauffälligkeiten von Schülern entgegenzuwirken. Das beginnt schon in der Kita:

  • Die Erzieheraus- und -fortbildung soll stärker auf die Förderung sprachlicher, mathematischer und sozialer Kompetenzen ausgerichtet werden. Fachkräfte sollten mindestens drei Fortbildungstage pro Jahr bekommen und mehr Zeit für pädagogische Arbeit mit den Kindern. Und der wichtigste Punkt: Im Alter von drei bis vier Jahren empfehlen die Wissenschaftlicher flächendeckende Sprachtests aller Kinder, auch derjenigen, die nicht zur Kita gehen und eine verbindliche Förderung falls Defizite festgestellt werden.
  • Für die Grundschule (in der Regel vier Schuljahre) raten sie zu im Schnitt mindestens sechs Stunden Deutsch und fünf Stunden Mathematik pro Woche. Dazu sollte in „standardisierten Diagnoseverfahren“ mehrmals pro Schuljahr überprüft werden, ob Mindeststandards erreicht sind. Das muss nach Angaben der Kommission keinen Mehraufwand für Lehrkräfte bedeuten. „Es werden auch jetzt schon Klassenarbeiten und Tests geschrieben, die korrigiert werden, die aber häufig noch nicht unter diagnostischen Gesichtspunkten gesehen werden“, sagte Becker-Mrotzek. KMK-Vertreter verwiesen auch auf Analyse-Programme und digitale Tools, die genutzt werden könnten, um den Lernstand der Schüler zu überprüfen.
  • Außerdem schlägt die Kommission vor, Konzepte zur Förderung „sozial-emotionaler Kompetenzen“ im Schulprogramm jeder Grundschule zu verankern, schulische Regeln gemeinsam aufzustellen und den Effekt stärker zu nutzen, dass Kinder auf andere Kinder positiv einwirken können („positive Peerkultur“).
  • Verpflichtende halbjährliche Lern- und Entwicklungsgespräche mit Eltern, mehr Gestaltungsspielraum und Zeit für Schulleitungen („Entlastungsstunden“) zur Personal- und Schulentwicklung und eine gezielte Förderung von Grundschulen mit vielen Kindern aus sozial schlechter gestellten Familien sind weitere Empfehlungen.

Kernaufgabe von Schule bleibe die Vermittlung der „basalen Kompetenzen“ Lesen, Schreiben, Rechnen, sagte Hessens Kultusminister Alexander Lorz (CDU). Das Gutachten gebe diesbezüglich ein klares Statement ab, betonte Hamburgs Schulsenator Ties Rabe (SPD).

Wann soll es Änderungen geben?

Die KMK kündigte am Freitag an, bis zum Sommer politische Handlungsempfehlungen aus dem Papier abzuleiten. Es sollte als „Weckruf und sofortiger Handlungsauftrag“ verstanden werden, hieß es vom Deutschen Lehrerverband. Verbandspräsident Heinz-Peter Meidinger begrüßte unter anderem die nach seiner Auffassung „knallharte Forderung“ der Experten nach einer umfassenden Sprachstandsdiagnostik für Kinder im Kita-Alter verbunden mit verbindlicher anschließender Sprachförderung. Das fordere sein Verband seit zehn Jahren.

Von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hieß es, mit dem Gutachten werde den Grundschulen und Kitas eine längst überfällige Aufmerksamkeit und Unterstützung zuteil. Die Empfehlungen erforderten allerdings massive Investitionen in das Bildungssystem.