Berlin. «Unsozialer Bullshit»: Solch scharfe Kritik erntet der Chef des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall für seinem Vorstoß für eine Rente mit 70. Nun pflichten ihm Stimmen aus der Wissenschaft bei.

In der Debatte um eine Anhebung des Renteneintrittsalters auf 70 Jahre erhält Gesamtmetall-Chef Stefan Wolf Unterstützung von Wirtschaftsexperten. «Der Vorschlag ist richtig und wichtig: Denn er hilft gegen Altersarmut und entlastet zudem die Rentenkasse, die vor dem Kollaps steht», sagte der Ökonom Bernd Raffelhüschen von der Universität Freiburg der «Bild»-Zeitung. Auch die «Wirtschaftsweise» Monika Schnitzer zeigte sich für ein höheres Renteneintrittsalter offen. Ihre Kollegin Veronika Grimm forderte die Kopplung des Renteneintritts an die höhere Lebenserwartung - doch sie mahnte zugleich, nicht jede Arbeit könne man im Alter einfach weitermachen.

«Die Lebenserwartung steigt und die Gesundheit der Menschen im Alter verbessert sich im Durchschnitt. Das erfordert auch eine Anpassung beim Rentenalter, damit die Rentenversicherung finanzierbar bleibt», sagte Grimm der «Rheinischen Post» (Mittwoch). Wolf, der Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, hatte sich zuvor in einem Interview ebenfalls für eine längere Lebensarbeitszeit ausgesprochen und dies unter anderem mit einer immer älter werdenden Gesellschaft begründet.

Gesamtmetall: System mittelfristig nicht mehr finanzierbar

Angesichts der demografischen Entwicklung und der Belastungen der Sozial- und Rentenkassen seien die Reserven aufgebraucht, sagte Wolf den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. «Stufenweise werden wir auf das Renteneintrittsalter von 70 Jahren hochgehen müssen - auch weil das Lebensalter immer weiter steigt.» Ansonsten werde das System mittelfristig nicht mehr finanzierbar sein.

Aktuell steigt die Altersgrenze für die Rente ohne Abschläge schrittweise von 65 auf 67 Jahre. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) lehnt eine weitere Erhöhung ab. Bereits im Mai hatte er nach einem Vorstoß von Ökonomen zur Rente mit 70 erklärt: «Wir haben in der Koalition vereinbart, dass wir das gesetzliche Renteneintrittsalter nicht erhöhen. Und daran wird sich nichts ändern.»

Während Wolfs Vorschlag bei Gewerkschaften, Politikern der Linken und Sozialverbänden auf strikte Ablehnung stieß, signalisierten zwei «Wirtschaftsweise» Unterstützung. «Um die Rente auch in Zukunft zu sichern, gibt es drei Stellschrauben: Renteneintrittsalter, Beitragshöhe und Rentenhöhe. Man wird nicht umhinkommen, an allen drei Schrauben zu drehen, wenn wir die künftigen Generationen nicht überlasten wollen», sagte die Münchner Wirtschaftsprofessorin Schnitzer der Funke-Mediengruppe.

Forderung nach flexibleren Wochenarbeitszeiten

Das Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung forderte zudem eine Flexibilisierung der Wochenarbeitszeit. «Manche möchten mehr verdienen und sind bereit, dafür länger zu arbeiten», sagte sie. «Andere wollen eher etwas weniger arbeiten. In Zeiten des Fachkräftemangels sollte man Konzepte finden, die es ermöglichen, möglichst viele in den Arbeitsmarkt zu integrieren.»

Die Wirtschaftswissenschaftlerin Grimm forderte bei einer längeren Lebensarbeitszeit auch mehr Weiterbildungsmöglichkeiten. «Idealerweise gelingt es, die Erwerbsverläufe so zu gestalten, dass die Menschen im Alter Tätigkeiten ausüben, die leistbar sind», sagte sie. Bisher gingen Viele vorzeitig in den Ruhestand, weil sie ihre Arbeit nicht mehr ausüben könnten. «Man muss dort vorausschauend neue Wege öffnen», forderte sie. Nicht zuletzt wegen des Fachkräftemangels würden die Menschen gebraucht.

DGB: Rentenkürzung mit Ansage

Auf Widerspruch stieß der Vorschlag für eine Rente ab 70 unter anderem beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB). Es handele sich um «nichts anderes als eine Rentenkürzung mit Ansage», sagte Vorstandsmitglied Anja Piel. Der Sozialverband Deutschland (SoVD) ordnete das Vorhaben ebenfalls so ein: «Eine Anhebung des Renteneintrittsalters bedeutet nichts anderes als eine Rentenkürzung.» Stattdessen brauche es eine grundsätzliche Debatte über die Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung.

Die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Verena Bentele, schlug vor, die gesetzliche Rentenversicherung auf eine solidere Finanzgrundlage zu stellen. «Statt lebensferner Überlegungen, das Renteneintrittsalter weiter heraufzusetzen, müssen wir die gesetzliche Rentenversicherung stärken. Das bedeutet: Perspektivisch müssen alle dort einzahlen - neben Angestellten auch Beamte, Selbstständige und Politiker», sagte sie.