Brandenburg/Havel. Ein 101-Jähriger soll als SS-Wachmann von 1942 bis 1945 Beihilfe zum Mord an mehr als 3500 Häftlingen geleistet haben. Der Angeklagte bestreitet dies. Der Staatsanwalt hat hingegen keine Zweifel.

Die Staatsanwaltschaft hat im Prozess gegen einen mutmaßlichen früheren SS-Wachmann im Konzentrationslager Sachsenhausen fünf Jahre Haft für den 101-jährigen Angeklagten gefordert.

"Sie haben die Entmenschlichung der Opfer hingenommen und haben sich damit abgefunden", sagte Oberstaatsanwalt Cyrill Klement am Dienstag in Brandenburg/Havel. "Diese Geschichte "wir wussten von nichts" glaube ich nicht." Der Mann sei ein Rädchen im Räderwerk gewesen, mit dem das Gefangenhalten und Ermorden möglich gewesen sei.

Als damaliger Wachmann im KZ Sachsenhausen soll der heute 101-Jährige der Anklage zufolge von 1942 bis 1945 Beihilfe zum Mord an mehr als 3500 Häftlingen geleistet haben. Dabei geht es nach Angaben des Staatsanwalts um Beihilfe zum Mord an sowjetischen Kriegsgefangenen mit Genickschussanlage, zu Mord an Kranken durch Genickschüsse, zu Mord durch lebensfeindliche Bedingungen und zu Mord durch Vergasung. Genickschüsse erfüllten das Mordmerkmal der Heimtücke, die Tötungen durch lebensfeindliche Lebensbedingungen das der Grausamkeit, sagte Klement.

Der Angeklagte nahm das Plädoyer praktisch reglos auf. Nur als es um die aus Sicht der Anklage zweifelsfreie Tätigkeit als SS-Wachmann im KZ ging, sah es für einen Moment so aus, als wollte er sich dazu äußern. Bisher bestreitet der Angeklagte, dass er in dem KZ überhaupt tätig war. Er gab an, in der fraglichen Zeit als Landarbeiter bei Pasewalk (Mecklenburg-Vorpommern) tätig gewesen zu sein. Er war 1941 als sogenannter Volksdeutscher von Litauen nach Deutschland umgesiedelt worden.

Mehrere Dokumente sollen Tätigkeit belegen

Die Staatsanwaltschaft stützt ihre Anklage auf Dokumente zu einem SS-Wachmann mit dem Namen, dem Geburtsdatum und dem Geburtsort des Mannes. Klement sagte, der Angeklagte sei 1941 von der SS angeworben worden. Er führte mehrere Listen als Belege für die Tätigkeit im KZ Sachsenhausen an. In einem Schreiben des Vaters heiße es, der Sohn sei bei der SS in Oranienburg. Ein SS-Führer habe außerdem an die Polizei in Pasewalk geschrieben, wie die Mutter erklärt habe, solle ihr Sohn zurzeit bei der Waffen-SS sein.

Der Oberstaatsanwalt hält es für möglich, dass der Sohn dem Vater mit seiner Tätigkeit helfen wollte, zurück nach Litauen zu gehen. Im Jahr 1944 sei der Angeklagte zum SS-Rottenführer befördert worden - mit Personalverantwortung. Zu seinen Aufgaben habe die Bewachung des Lagers und die Verhinderung der Flucht gehört. "Sie haben sich nicht nur abgefunden, sie haben auch Karriere gemacht im KZ Sachsenhausen", sagte Klement.

Der Strafrahmen für die angeklagte Tat liegt zwischen drei und 15 Jahren. Der Oberstaatsanwalt hielt dem Angeklagten zugute, dass die Tat sehr lange zurückliege, er sich zwischenzeitlich nichts zu Schulden habe kommen lassen und sich dem Verfahren gestellt habe.

Plädoyer der Verteidigung am 1. Juni

Die Verteidigung hofft auf eine möglichst geringe Haftstrafe. "Unter normalen Umständen (...) wäre diese Strafe von drei Jahren das bestmögliche Ergebnis formal", sagte Verteidiger Stefan Waterkamp. Er wolle seinem Angeklagten eine Revision empfehlen, wenn ein Urteil mit zwingendem Haftantritt herauskomme. In der nächsten Woche sollen am Montag und Dienstag die Nebenkläger das Wort haben. Das Plädoyer der Verteidigung ist nach bisherigen Plänen für den 1. Juni vorgesehen, das Urteil könnte dann am 2. Juni gesprochen werden.

Nebenkläger-Anwalt Thomas Walther nannte den Antrag der Staatsanwaltschaft "durchaus angemessen". "Diese fünf Jahre passen in den Rahmen der Verurteilungen in den vergangenen Jahren."

Das Münchner Landgericht hatte 2011 den ehemaligen KZ-Aufseher John Demjanjuk wegen Beihilfe zum Mord an mindestens 28 060 Juden im Jahr 1943 im Vernichtungslager Sobibor zu fünf Jahren Haft verurteilt. Er bestritt, KZ-Aufseher gewesen zu sein. Das Urteil wurde nie rechtskräftig, weil Demjanjuk starb, bevor über eine Revision entschieden war. Der Fall brachte aber eine Wende: Seitdem besteht die Justiz bei ähnlichen Verfahren nicht mehr auf den oft unmöglichen Nachweis individueller Schuld.

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