Berlin. “Gemeinsam rein, gemeinsam raus“, sagt die Nato in Afghanistan. Aber auch einheimische Mitarbeiter der Bundeswehr müssen vor Racheakten der Taliban bewahrt werden.

Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer will gefährdete afghanische Helfer der Bundeswehr vor dem Abzug vereinfacht und schnell nach Deutschland holen.

"Wir reden hier von Menschen, die zum Teil über Jahre hinweg auch unter Gefährdung ihrer eigenen Sicherheit an unserer Seite gearbeitet, auch mitgekämpft haben und ihren persönlichen Beitrag geleistet haben", sagte Kramp-Karrenbauer der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. "Ich empfinde es als eine tiefe Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland, diese Menschen jetzt, wo wir das Land endgültig verlassen, nicht schutzlos zurückzulassen."

Innerhalb der Bundesregierung liefen bereits Gespräche, sagte die CDU-Politikerin. "Ich bin der Auffassung, dass wir uns das in der Bundesregierung sehr genau anschauen müssen, und da weiß ich mich auch einig insbesondere mit dem Auswärtigen Amt." Auch mit Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) berate sie. "Jetzt geht es um die Verfahren. Zu prüfen, wie war die Gefährdungslage, wer kann im Rahmen dieser Festlegung kommen, wie ist das mit den Familien. Diese Fragen müssen wir schnell klären", sagte sie.

Das Innenministerium teilte der "Welt am Sonntag" mit, die Bundesregierung werde eigens ein Büro in Kabul und voraussichtlich auch in der Region um Masar-i-Scharif als Anlaufstelle einrichten, "um die Verfahren im Interesse der Betroffenen einfacher zu organisieren und abwickeln zu können". Damit sollen die afghanischen Angestellten "weiterhin die Möglichkeit haben, auch innerhalb von zwei Jahren nach Beendigung ihres Dienstes ihre Gefährdung anzuzeigen".

Die Nato hatte am Mittwoch entschieden, bis zum 1. Mai den Abzug aus Afghanistan einzuleiten. Zuvor hatten sich die USA als größter Truppensteller auf den 11. September als Abzugstermin festgelegt - den 20. Jahrestag der Terroranschläge des islamistischen Netzwerks Al-Kaida in den USA. Die Bundeswehr soll schon bis Mitte August abgezogen werden. Deutschland stellt mit 1100 Soldaten nach den USA das zweitgrößte Kontingent in der etwa 10.000 Soldaten starken Nato-Truppe.

Ein Verfahren für die Aufnahme der sogenannten Ortskräfte gibt es bereits, allerdings gibt es noch eine Reihe strittiger Fälle und nun eine neue Lage. Seit Beginn des Ortskräfteverfahrens im Jahr 2013 wurden nach Angaben der Verteidigungsministeriums 781 Ortskräfte in Deutschland aufgenommen. Das deutsche Einsatzkontingent "Resolute Support" beschäftigt derzeit rund 300 Ortskräfte.

"Das ist ein Thema, das mir sehr wichtig ist und das mich auch umtreibt", sagte Kramp-Karrenbauer. Sie habe selber im Land mit Ortskräften gesprochen. Es sei nicht nur eine Verpflichtung der Bundeswehr, sondern aller internationalen Kräfte, die vor Ort waren, für die Sicherheit der Mitarbeiter zu sorgen. "Wir haben aus meiner Sicht eine veränderte Situation, weil wir nicht über die Umstellung einer Mission reden, sondern über ein Ende", so Kramp-Karrenbauer. "Und das bedeutet möglicherweise eine andere Sicherheitslage und eine andere Bewertung."

Zur Entscheidung des Bündnisses für den Abzug sagte sie: "Die Nato-Sitzung am Mittwoch hatte etwas Surreales: Wir berieten zwei Stunden per Videokonferenz und besiegelten das Ende des 20-jährigen Afghanistaneinsatzes. Und trotz der digitalen Distanz des Formats hat mich die Emotionalität des Augenblicks gepackt und bewegt mich immer noch!"

Dass es jetzt einen Abzug ohne Friedensregelung zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban gebe, besorgt Kramp-Karrenbauer. "Das beschäftigt mich sehr", sagte sie. "Aus meiner Sicht ist dieser Friedensprozess geschwächt worden, als die Trump-Administration die Vereinbarung mit den Taliban geschlossen hat - mit einem festen Abzugsdatum und ohne Einbindung der afghanischen Regierung", sagte sie. "Wir haben leider erlebt, dass die Taliban das als Faustpfand in der Hand hatten. Das hat jetzt dazu geführt, dass sie nicht bereit waren, einen neuen Versuch zu starten - etwa in Istanbul."

Sie äußerte Verständnis für die Haltung der neuen US-Administration von Präsident Joe Biden, der ja ausgelotet habe, ob es Chancen gebe für eine Friedenslösung. "Was man nicht vergessen darf: Das ist ein Einsatz für die Amerikaner, ein Krieg seit 20 Jahren, der über 2000 Soldaten das Leben gekostet hat, der eine Billion Dollar gekostet hat, der unzählige und tausende Verletzte zurückgelassen hat", sagte Kramp-Karrenbauer. "Die USA sind dieses Einsatzes müde und standen konkret vor der Frage, möglicherweise noch einmal richtig in eine heiße Phase der Auseinandersetzung zu gehen." In der Abwägung habe Biden gesagt: "Das wollen wir uns und auch den Menschen in Amerika nicht noch einmal zumuten. Ich glaube das ist etwas, das man durchaus nachvollziehen kann."

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