Berlin. Bundespräsident Steinmeier schaltet sich in den Streit um Nord Stream 2 ein und verteidigt das Projekt mit einem historischen Argument. Das kommt nicht überall gut an. Und auch Finanzminister Scholz gerät im Zusammenhang mit der Pipeline in die Kritik.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat mit Äußerungen zur umstrittenen Gaspipeline Nord Stream 2 Verärgerung in der Ukraine ausgelöst.

Die "fragwürdigen historischen Argumente" zur Unterstützung des Milliardenprojekts mit Russland seien "mit Befremden und Empörung" in Kiew aufgenommen worden, schreibt der ukrainische Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk, in einer Stellungnahme, die der Deutschen Presse-Agentur vorliegt. "Die Äußerungen von Bundespräsident Steinmeier haben uns Ukrainer tief ins Herz getroffen."

Auch Bundesfinanzminister Olaf Scholz geriet in die Kritik, aber aus einem ganz anderen Grund: Er soll den USA ein Milliardenangebot zur Verhinderung von Sanktionen gegen die Pipeline gemacht haben.

Steinmeier hatte sich am Wochenende in den Streit um Nord Stream 2 eingeschaltet und die Pipeline mit dem Argument verteidigt, dass die Energiebeziehungen fast die letzte verbliebene Brücke zwischen Russland und Europa seien. Er wies in einem Interview der "Rheinischen Post" darauf hin, dass Deutschland dabei auch die historische Dimension im Blick behalten müsse und erinnerte an den deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg, der sich am 22. Juni zum 80. Mal jährt. "Mehr als 20 Millionen Menschen der damaligen Sowjetunion sind dem Krieg zum Opfer gefallen. Das rechtfertigt kein Fehlverhalten in der russischen Politik heute, aber das größere Bild dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren", sagte Steinmeier.

Melnyk wirft dem Bundespräsidenten vor, die vielen Millionen Opfer der Nazi-Diktatur in der damals zur Sowjetunion gehörenden Ukraine in diesem Zusammenhang nicht ausdrücklich erwähnt zu haben. Das sei "eine gefährliche Geschichtsverdrehung". Nord Stream 2 bleibe ein geopolitisches Projekt des russischen Präsidenten Wladimir Putin, das den ukrainischen Interessen zuwiderlaufe. "Es ist daher zynisch, gerade in dieser Debatte die Schrecken der NS-Terrorherrschaft ins Spiel zu bringen und dazu noch die Millionen sowjetischen Opfer des deutschen Vernichtungs- und Versklavungskrieges ausschließlich Russland zuzuschreiben."

Das Bundespräsidialamt reagierte irritiert auf die Kritik: "Der Vorwurf stößt im Bundespräsidialamt auf völliges Unverständnis. Der Text des Interviews spricht für sich."

Historiker schätzen die Zahl der Opfer auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion auf etwa 27 Millionen. Die Ukraine hatte prozentual an ihrer Gesamtbevölkerung nach Belarus (Weißrussland) die höchsten Bevölkerungsverluste. Ukrainischen Angaben zufolge kamen zwischen acht und zehn Millionen damalige Bewohner des heutigen ukrainischen Staatsgebiets zwischen 1939 und 1945 ums Leben.

Die Ukraine zählt neben den USA, den baltischen Staaten und Polen zu den schärfsten Gegnern der fast fertiggebauten Pipeline Nord Stream 2, durch die künftig jedes Jahr 55 Milliarden Kubikmeter Erdgas von Russland nach Deutschland befördert werden sollen. Die Regierung in Kiew profitiert derzeit noch von russischen Gaslieferungen nach Europa, indem sie Durchleitungsgebühren von Moskau kassiert. In den nächsten Jahren will Russland die Menge aber zurückfahren und stattdessen mehr Gas durch die Ostsee direkt in die EU liefern.

Kritik an den Äußerungen Steinmeiers kam auch aus der FDP. Der außenpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Bijan Djir-Sarai, nannte sie geschmacklos. "Dass nun (...) auch noch Bundespräsident Steinmeier das Gasprom-Projekt mit historischer Verantwortung gegenüber der Sowjetunion rechtfertigt, setzt der Scheinheiligkeit noch die Krone auf" sagte er.

Unterdessen veröffentlichte die Deutsche Umwelthilfe (DUH) ein Dokument, nach dem Scholz (SPD) den USA bis zu einer Milliarde Euro Importförderung für ihr Flüssiggas geboten haben soll, um Sanktionen gegen Nord Stream 2 zu verhindern. Die USA bekämpfen die Pipeline, weil sie eine zu starke Abhängigkeit Europas von russischen Energielieferungen verhindern wollen. Befürworter der Gasleitung werfen den Amerikanern dagegen schon lange vor, nur ihr Flüssiggas verkaufen zu wollen.

Nach dem von der DUH veröffentlichten Dokument soll Scholz am 7. August 2020 einen persönlichen Brief an seinen damaligen US-Kollegen Steven Mnuchin verfasst und ihm in einem angehängten Papier das Angebot unterbreitet haben. DUH-Bundesgeschäftsführer Sascha Müller-Kränner sprach von einem "Skandal" und einem "schmutzigen Deal auf Kosten Dritter".

Aus Regierungskreisen hieß es, die Bundesregierung stehe "zu den US-Sanktionen und den Sanktionsdrohungen bezüglich Nord Stream 2 mit der US-Regierung in Kontakt". Diese Gespräche seien vertraulich.

Scharfe Kritik am Vorgehen des Bundesfinanzministers kam indes aus der Opposition. "Es ist völlig inakzeptabel, dass Olaf Scholz versucht, mit Steuergeldern US-Fracking-Gas in Deutschland zu vergolden und zugleich Nord Stream 2 von US-amerikanischen Sanktionen freikaufen möchte", schrieb der haushaltspolitische Sprecher der Grünen im Bundestag, Sven-Christian Kindler, in einer Stellungnahme.

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