Berlin/Mailand. Nach dem Berlin-Anschlag setzt sich Anis Amri nach Italien ab – und wird in Mailand erschossen. Die Fahndung läuft trotzdem weiter.

Drei Uhr nachts im Mailänder Außenbezirk Sesto San Giovanni, direkt am Bahnhof, Piazza 1. Maggio. Zwei Polizisten fahren Streife in dem Stadtteil direkt am Bahnhof, Cristian Morio (36) und Luca Scatà (29). Ihnen fällt ein Mann auf, er ist allein unterwegs, zu Fuß in der Dunkelheit, er passt auf die Beschreibung des Terrorverdächtigen Anis Amri.

Die Polizisten steigen aus ihrem Wagen aus, fragen den jungen Mann nach seinen Papieren. Dann geht alles sehr schnell. Der Mann zieht aus seinem Rucksack oder einer Tasche eine Pistole, ein Kleinkaliber 22. Ohne zu zögern feuert er auf die beiden Beamten. So berichten italienische Medien wie der „Corriere della Sera“ über die Nacht, in der die beiden Polizisten den mutmaßlichen Terroristen Anis Amri erschossen.

Amri ruft „Polizei-Bastarde“

Polizist Morio wird durch einen Schuss an der Schulter verletzt. Der Angreifer verschanzt sich hinter einem geparkten Wagen, schreit „Polizei-Bastarde“ und schießt erneut. Zwei Schüsse feuert Polizist Scatà ab, eine Kugel trifft Amri in den Brustkorb. Er liegt am Boden, auf dem Asphalt der Straße. Augenzeugen am Bahnhof berichten, dass die beiden Polizisten den mutmaßlichen Terroristen noch wiederbeleben wollen. Doch Amri stirbt. Scatà ist erst seit neun Monaten im Polizeidienst, er ist noch in der Probezeit.

Der Schusswechsel in Mailand beendet die europaweite Jagd nach dem Mann, der zwölf Menschen auf dem Berliner Weihnachtsmarkt getötet und fast 50 weitere verletzt haben soll. Fotos von Amri hingen in jedem Polizeirevier, gingen durch alle Medien – und trotzdem ging der 24-jährige Tunesier seinen Verfolgern durch die Lappen. So gesehen lag NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) zumindest mit einer Einschätzung goldrichtig: Amri sei „hochmobil“, hatte Jäger gesagt.

Amris Weg führte wohl über Paris

Tatsächlich zeigte sich der Gesuchte mobiler als ungezählte Sondereinsatzkommandos, die ihn tagelang bundesweit aufzuspüren versuchten. Spezialeinheiten hatten Wohnungen und Einrichtungen in mehreren Bundesländern gestürmt. Alle Einsätze blieben erfolglos. Während die Ermittler im Dunkeln tappten, saß Amri schon im Zug.

Sein genauer Fluchtweg war bisher unklar. Einiges spricht dafür, dass er über Paris führte. Bestätigen wollte das niemand. „Die Bewegungsdaten sind eminent wichtig für die weiteren Ermittlungen“, sagte ein Sprecher des Bundesgerichtshofes auf Anfrage unser Redaktion. Man werde Täterwissen nicht kommunizieren. In jedem Fall setzte sich Amri zunächst nach Frankreich ab. Eine Station: Chambéry am Fuße der Savoyer Alpen. Von dort flüchtete der Tunesier über die italienische Grenze, gelangte über Turin nach Mailand, seiner Endstation.

Fahndung nach Helfern geht weiter

Auch nach Amris Tod läuft die Fahndung weiter – weil es „Mittäter, Mitwisser oder Helfershelfer“ geben könnte, wie Generalbundesanwalt Peter Frank sagte. Es gehe darum, „den Fluchtweg nachzuvollziehen“. Und um die Tatwaffe von Berlin: jene Pistole, mit der der polnische Fahrer des gekaperten Lastzuges bei der Todesfahrt über den Breitscheidplatz erschossen worden war. Italienische Medien berichteten, Amris Schusswaffe von Mailand sei die, mit der am Breitscheidplatz gefeuert wurde. Im Lkw wurde jetzt auch sein Handy gefunden.

Ebenso tauchte ein wichtiger Beleg dafür auf, dass Amri in Kontakt zu Mitgliedern der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) stand. Die IS-nahe Medienplattform „Amaq Agency“ veröffentlichte ein Video, das Amri in der Zeit vor dem Anschlag zeigen soll. Die Sicherheitsbehörden bestätigten dies zunächst nicht, doch die Ähnlichkeit mit anderen Fotos des mutmaßlichen Terroristen ist unverkennbar.

„Wer kämpfen kann, soll kämpfen“

Amri steht auf einer Brücke am Berliner Friedrich-Krause-Ufer – ganz in der Nähe des Ortes, an dem der Attentäter am Montag den Lastwagen gekapert haben soll. Der junge Tunesier schwört auf den selbst ernannten „Kalifen“ al-Bagh­dadi. Fast drei Minuten filmt Amri sich mit seiner Handykamera.

Seine Stimme ist ruhig, er spricht Arabisch, hetzt gegen den Westen, ruft zum bewaffneten Kampf auf. „Wer kämpfen kann, soll kämpfen.“ Mit wem genau Amri beim IS in Kontakt stand, ist bisher unklar. Am Tag nach dem Attentat hatte der IS über „Amaq“ den Anschlag auf den Weihnachtsmarkt für sich reklamiert.

Was war Amris Ziel?

Fraglich bleibt auch: Wo wollte Anis Amri hin? Erkenntnisse darüber wollten die deutschen Sicherheitsbehörden und der ermittelnde Generalbundesanwalt nicht preisgeben. Wenn sie es denn überhaupt wissen. Amri wurde nun dort erschossen, wo er im Februar 2011 auf einem Flüchtlingsboot gelandet ist: in Italien. Zu wem Amri in Italien Kontakt hatte, ist unklar.

Mehrere Jahre saß der Islamist wegen Vandalismus, Diebstahl und anderen Straftaten in dem Land im Gefängnis. Ob er sich dort radikalisiert hat, ist bisher nicht bekannt. Doch für Terrorismus-Experten sind Gefängnisse Orte der Rekrutierung und Radikalisierung von Neonazis – aber auch von Islamisten.

Radikalisierung im Gefängnis möglich

Peter Neumann und Rajan Basra vom Londoner King’s College untersuchten Biografien von 79 Dschihadisten – 45 von ihnen saßen in Haft, wiederum fast 30 Prozent davon radikalisierten sich dort. Ein Szenario ist also, dass Amri nun in Italien bei Islamisten untertauchen wollte, die er im Gefängnis kennengelernt hatte.

Eine andere Möglichkeit: Anis Amri wollte nach Libyen – denn einige Teile des Landes kontrollieren dschihadistische Milizen, darunter auch eine Fraktion des Islamischen Staates. Um nach Libyen zu kommen, hätte er etwa mit einer Fähre aus dem italienischen Genua erst über die tunesische Hauptstadt Tunis reisen müssen, dann weiter auf dem Landweg.

Mit etlichen Pässen unterwegs

Dafür hätte Amri wiederum gefälschte Papiere gebraucht. Das wäre wohl nicht das Problem gewesen. Schon in Deutschland war er mit verschiedenen Pässen und Identitäten unterwegs. Von vier unterschiedlichen Namen und vier bis acht Pässen ist die Rede. Unwahrscheinlicher ist, dass Amri in seine Heimat Tunesien zurückkehren wollte. Dort wird er gekannt und von der Polizei gesucht. Ein Untertauchen wäre nur schwer möglich gewesen – wenn das denn sein Ziel war.

Einer der letzten Irrtümer bei der Fahndung: Die veröffentlichten Bilder einer Überwachungskamera vor einer Moschee in Moabit zeigten nicht Anis Amri. Entsprechende Medienberichte dementierte der Chef des Berliner Landeskriminalamtes, Christian Steiof.

Moscheeverein im Visier der Behörden

Der Moscheeverein „Fussilet 33“ steht seit Längerem unter Beobachtung der Sicherheitsbehörden, einzelne Mitglieder sollen eine Nähe zur Terrororganisation IS haben. Gegen mehrere Ex-Vorstände laufen zudem fünf Verfahren, zum Beispiel gegen Ismet D., der sich selbst als den „Kalifen von Wedding“ bezeichnet. Die Berliner Behörde prüft nun ein Verbot des Moscheevereins.

Das LKA Berlin hatte Amri am 10. März 2016 als Gefährder eingestuft – also als eine Person, der die Sicherheitsbehörden einen Terroranschlag zutrauen. Diese Einstufung wurde jedoch am 10. Mai aufgehoben, weil Amri in Oberhausen einen Asylantrag stellte. In Berlin wurde gegen ihn unter anderem wegen Körperverletzung auf dem Gelände der Berliner Sozialbehörde Lageso und wegen Falschbeurkundung ermittelt. Außerdem hatte er laut Berliner Staatsanwaltschaft versucht, in Frankreich Waffen zu besorgen und diese Waffen durch Einbrüche zu finanzieren.

„Wir können zum Ende dieser Woche erleichtert sein“

Merkel - Der Fall Amri wirft eine Reihe von Fragen auf

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    Heute Nachmittag: Pressekonferenzen – wie so oft in den vergangenen Tagen. Diesmal aber mit Stoßseufzern. „Wir können zum Ende dieser Woche erleichtert sein, dass eine akute Gefahr beendet ist“, sagte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) in Berlin. Die Gefahr des Terrorismus bestehe jedoch wie seit vielen Jahren weiter.

    Dies bekräftigen auch Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) und BKA-Chef Holger Münch. „Mit dem Fahndungserfolg hat sich leider die terroristische Bedrohungslage für Deutschland nicht verändert. Sie bleibt hoch“, sagt de Maizière. Merkel will den Fall des mutmaßlichen Terroristen Anis Amri nun von der Regierung analysieren lassen. Das Attentat werfe eine Reihe von Fragen auf, sagt Merkel. „Wir werden jetzt mit Nachdruck prüfen, inwieweit staatliche Maßnahmen verändert werden müssen.“