Flughafen wird nicht fertig, Flüchtlinge müssen nachts Schlange stehen, Schulen und S-Bahnen marode. Was steckt dahinter? Eine Analyse.

Womit anfangen: Rütli-Schule? Flughafen? S-Bahn? Schulklos? Oder schon mal auf das nächste potenzielle Skandalon hinweisen, die Stadtschloss-Baustelle? Neulich rief eine Freundin aus Bielefeld an, sie konnte „Lageso“ übersetzen. Als es nur der Flughafen war, lachte Deutschland über Berlin. Seit der düsteren Bilder, wie Geflüchtete in Berlin nicht um ihr Leben, aber um ihre Registrierung rennen, herrscht Entsetzen. „Failed Stadt“ heißt es bundesweit. Die „New York Times“ hat auch schon berichtet. Wer über Weihnachten nach Hause fährt, der weiß, womit die Familie aufwartet: Ihr da in Berlin, jeden Tag Party, auf Kosten der tapfer zahlenden Republik.

Tatsache ist: Knapp dreieinhalb Milliarden überweisen die anderen Bundesländer jährlich an die Hauptstadt. Zur Wahrheit gehört aber auch: Nicht jede Behörde versagt. An der Berliner Finanzverwaltung hätte auch Wolfgang Schäuble seine Freude. Steuern eintreiben, das beherrschten die Finanzsenatoren Sarrazin, Nußbaum und jetzt Kollatz-Ahnen. Unter dem neuen Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD) wird erstmals seit Jahren investiert – nur merkt davon kaum jemand was nach Jahren rigorosen Sparens.

Drogen werden noch immer im Görlitzer Park verkauft

Warum versagen Politik und Verwaltung in Berlin so kläglich? In welcher Stadt hätte die Marihuana-Indus­trie so viel Zeit, einen ganzen Park zur Verkaufsfläche umzuwandeln? Legendär, wie Innensenator Frank Henkel eine Null-Toleranz-Politik ausrief und der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg die Büsche kappen ließ, auf dass sich niemand mehr verstecken kann. Immerhin wurde kein Entlaubungsmittel eingesetzt. Die Bezirksbürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg, Monika Herrmann von den Grünen, kündigte schließlich legale Verkaufsstellen an, aber das war natürlich die erwartete Lachnummer. Drogen, Flüchtlinge, Krawalle – Kreuzberg ist und bleibt Epizentrum des Berliner Irrsinns: Regeln sind zum Übertreten da, und symbolischer Rummel gilt als politisches Handeln.

Dagegen fällt ein Bezirk wie Pankow kaum auf: ruhig, leise, ordentlich regiert. Mit Neukölln-Bashing hat Heinz Buschkowsky einige Bestseller gelandet, aber seinen Ex-Bezirk auch zugleich bundesweit zum Symbol gescheiterter Integration erhoben. So geht auch der Preis für mangelnden Lokalpatriotismus nach Berlin. In Pankow wäre das nicht passiert; dieser Bezirk läuft. Dennoch hat der besonnene Bürgermeister Köhne nach zehn Jahren genug. Täglicher Irrsinn stresst.

Spannende Frage: Warum funktioniert Berlin überhaupt? Wie können Menschen hier täglich zur Arbeit gehen und zwar mehr als je zuvor? Wie überleben Kinder in verkeimten, baufälligen Schulen?

Flüchtlinge warten vor dem Amt, nur um einen Termin zu ergattern
Flüchtlinge warten vor dem Amt, nur um einen Termin zu ergattern © dpa | Kay Nietfeld

Warum werden die Start-ups nicht anderswo in Deutschland gegründet? Wie lebt es sich in einer Stadt, in der die Ämter angeblich keine Termine vergeben, Radwege im Nichts enden und Flüchtlinge nur registriert werden, wenn sie mindestens halb erfroren sind, um dann in einer Halle auf dem Messegelände unterzukommen, wo gleich nebenan das Pornofestival „Venus“ steigt? Berlin ist ein Dschungel, permanenter Ausnahmezustand, jeden Tag Staatsbesuch, jeden Tag ein halbes Dutzend Demos, Fanmeile, Silvester und immer gleich Millionen. Kongressveranstalter lieben die Stadt für ihre Sicherheit und die gelassenen Event-Profis. Berlin heißt eben Routine im Umgang mit Risiko und Chaos. Die Bewohner sind Überlebenskünstler, genügsam, trickreich, ausdauernd, jeden Moment auf Überraschungen eingestellt. Sie finden einen Weg, den Reisepass zu verlängern, sie wissen, wo Charme hilft oder ein Glas selbst gemachte Marmelade. Im Hauptstadtdarwinismus muss man schmerzfrei sein und vergessen können. Die anderen fliehen geschockt zurück in Gegenden mit berechenbarerem Leben.

In der Hauptstadt herrscht dauernde Spannung, denn es gilt das Berlin-Paradox. Hier die Mahnwache osteuropäischer Bauarbeiter, die von kriminellen Projektentwicklern um ihren kargen Lohn betrogen wurden, dort Oligarchen-Tussen, die mit Krallen und High Heels ihren SUV wie russische Panzer durch die Straßen prügeln. Hier der virtuelle Flughafen, seit dreieinhalb Jahren uneröffnet, dort die Provisorien Tegel und Schönefeld, die wundersam unproblematisch knapp 30 Millionen Passagiere jährlich abwickeln. Hier ein chaotisch organisiertes Flüchtlingsmanagement samt überfordertem Senator, dort der Klatschjournalist, der jede Nacht Menschen bei sich aufnimmt, der Werber, der seit Monaten seine Freizeit verwendet, um Dienstpläne für Tausende freiwillige Helfer zu koordinieren, das Schauspielerpaar, das ohne mediales Gebimmel zwei syrische Jungen aufnimmt, beschult, ernährt. Tapfer fangen unzählige Improvisationskünstler auf, was die Berliner Verwaltung fallen lässt.

Im berüchtigten Lageso gibt es den Job des Suchers

Es gibt zwei zentrale Überlebensregeln im Berliner Dschungel. Erstens: Wer was will, der schreie so laut wie möglich. Zweitens: Wer angeschrien wird, der stelle sich taub. So entsteht eine Balance aus Lärm und Nichtstun. Man weiß: Vieles regelt sich von allein, irgendwie. Oder man gewöhnt sich an Provisorien, siehe Flughäfen. So resultiert die Berliner Dauerkrise weniger aus Führungsversagen als vielmehr aus Führungsverweigerern, wie der Senat eindrucksvoll vorlebt. Integrationssenatorin Kolat (SPD) ist abgetaucht, seit es mal was zu integrieren gibt. Auf ihrer Website wird eine Kunstausstellung gepriesen. Sozialsenator Czaja (CDU) verbarrikadiert sich hinter Vorschriften, während seine Behörden Chaos verwalten. Im berüchtigten Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) gibt es tatsächlich den Job des Suchers, der aus Aktenbergen das richtige Dokument zu fischen hat. Der Regierende Bürgermeister wiederum will Czaja nicht aus dem Amt und die CDU nicht aus der Koalition werfen. Denn dann wäre die CDU aus der Verantwortung befreit und würde einen brutalen Flüchtlingswahlkampf führen. Da ist es wieder, dieses Berlin-Paradox: Wer führt, verliert. Weiterwurschteln bedeutet das geringste Übel. Chaos ist der Preis für politisches Überleben.

Handeln dagegen mobilisiert schlafende Hunde, von denen es reichlich gibt. An jeder Straßenecke fühlt sich jemand diskriminiert, benachteiligt oder tut einfach so. Opfersein kann ein Beruf sein in Berlin, Protest eine Lebensaufgabe. So wird das Tempelhofer Feld noch eine gigantische Brachfläche sein, wenn die meisten Syrer wieder daheim sind. Wohnungsnot hin, Flüchtlinge her, Traglufthallen auf dem ehemaligen Flugfeld werden wegprotestiert. Der Geist von Pegida findet hier seine linke Variante.

Sieben Peinlichkeiten in Berlin

Lageso Das Landesamt für Gesundheit und Soziales ist zuständig für das Registrieren von Flüchtlingen. In anderen Kommunen werden Öffnungszeiten verlängert, Abläufe beschleunigt, Aufgaben zusammengelegt. In Berlin stehen jede Nacht Hunderte Menschen in der Kälte, um morgens einen Termin zu ergattern. Wer erfolglos bleibt, muss nächste Nacht wieder ran.

Bürgerämter Für Meldeangelegenheiten ist das Bezirksamt zuständig; Termine gibt es im Internet-Kalender. In der Hauptstadt der Start-ups fanden sich rasch junge Tüftler, die den Kalender quasi hackten und nun Termine verkaufen.

Flughafen Schon lange nicht mehr witzig. Fast 1300 Tage sind seit der geplanten Eröffnung vergangen. Wird es 2017 so weit sein? Lieber keine Prognosen. Dafür jeden Tag eine Million Euro Kosten.

Gerhart-Hauptmann-Schule Hier sind die letzten jener Flüchtlinge untergekommen, die vor zwei Jahren auf dem Oranienplatz campierten, um gegen die Residenzpflicht zu protestieren. Erst als die Ratten liefen, wurde das Camp geschlossen. Die letzten der Camper besetzten ein Schulgebäude, was vom Bezirk geduldet wird. Lerneffekt: Wer lange genug zeltet, bekommt zur Belohnung ein ganzes Haus.

Görlitzer Park Eine der größten Attraktionen unter Rucksacktouristen: Nirgendwo auf der Welt dient ein Park derart offen dem Marihuana-Verkauf wie hier. Die Anwohner sind’s leid, die Polizei verzweifelt an unklaren politischen Vorgaben, die Dealer verkaufen weiter.

Marode Schulen Jeden Tag neue Meldungen von ekligen Toiletten, undichten Dächern, kaputten Fenstern. Der schlimme Zustand mancher Berliner Schule liegt allerdings nicht an Finanzproblemen, sondern eher am Unwillen der zuständigen Stellen, Fördergelder abzurufen.

S-Bahn Banges Warten auf die ersten Schneeflocken. Mit Galgenhumor erwarten die Berliner die gewohnt schlechten Ausreden. Dennoch darf der Betreiber, die Deutsche Bahn, immer weitermachen.

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Seit Mauerzeiten haben gesellschaftspolitische Wirrköpfe zumindest Blockademacht in einer Stadt, die anders als Essen, Hamburg oder München keine bürgerliche Mitte hat, kein emotionales, historisches, kulturelles Zentrum, kaum gemeinsames Bewusstsein. Berlin, das ist die Diktatur von Randgruppen, die der Soziologe „Multiminoritätengesellschaft“ nennt. Ein in erster Ehe verheirateter Familienvater christlichen Glaubens, Steuerzahler, allergiefrei und nicht in therapeutischer Behandlung – das ist der wahre Exot hier.

Für Gesellschaftsromantiker ist Berlin ein Musterbeispiel für Buntheit, Vielfalt, Stile, Temperaturen. Stimmt ja auch. Wenn direkt am Straßenstrich Kurfürstenstraße der Berliner Opernnachwuchs um Julia Lwowski und Franziska Kronfoth mal wieder eine wüste Uraufführung veranstaltet, dann drücken sich 50, 60 Menschen in einem Luftschutzkeller, ohne Fluchttüren, mit Zigaretten unter Gasleitungen. Die Gläser klirren. In Bayern wären Nachbarn und Polizei längst eingeschritten, in Berlin kommen die Spione der großen Opernhäuser. Was im muffigen Keller probiert wird, kommt eines Tages auf die großen Bühnen in München, Hamburg, Essen, Bayreuth. Überleben im Chaos, das ist ein kostbares künstlerisches Exportgut.

Die Kehrseite des permanenten Durcheinanders: Die allgemein akzeptierten Spielflächen schrumpfen, es gibt keine kollektive Idee von moderner Stadt. Wo aber problemverliebte und lösungsunwillige Minderheiten ungestört ihre Dauerblockaden errichten, da geht das Fortschrittstempo gen null. Oder kehrt sich um, wie in Kreuzberg. Nach jahrzehntelangen Versuchen etwa, die international besetzten Randale-Festspiele am 1. Mai einzudämmen, brachte ein Bürgerfest endlich Frieden. Nun fehlt das Geld für die Party, Anwohner haben das Erbrochene von Easyjet-Touristen im Hauseingang satt, ein paar Familien haben das Geschäft monopolisiert. Und Bezirksbürgermeisterin Herrmann legt sich, Berlin-like, in die Furche.

Es gehört nicht viel Prognosetalent dazu, das Comeback des Krawalls vorherzusagen, zumal die Gerhart-Hauptmann-Schule noch immer von wenigen Flüchtlingen besetzt ist, instrumentalisiert von politischen Aktivisten. Kostet ein Vermögen, nützt keinem, nervt alle – aber keiner mag einschreiten. Regelt sich schon, irgendwie.

© Stephan Steinlein | Stephan Steinlein

Politische Verantwortung, so lautet eine Berliner Grundregel, hatten immer die Vorgänger. Wobei: Auf Berlin drücken tatsächlich Altlasten. Die 60 Milliarden Euro Schulden stammen überwiegend aus Landesbank-Abenteuern, die alle Bundesländer kennen. Aus lauter Not hat der damalige Finanzsenator Thilo Sarrazin viele günstige, öffentliche Wohnungen verscheuert, die nun an der Börse hin und her geschoben werden.

Zwar hat der Wowi-Bär oft wegcharmiert, dass gespart wurde, „bis es quietscht“. Doch nun sind die Folgen nicht länger zu verbergen. Die schlechte Laune im öffentlichen Dienst liegt nicht nur an den museumsreifen Computern und den vielen Überstunden, sondern auch an den im Bundesvergleich erbärmlichen Gehältern. Wer kann, wechselt in ein anderes Bundesland. Potsdam ist nur eine halbe Autostunde entfernt.

Ausgerechnet die Mitarbeiter zweier leistungsfähiger städtischer Betriebe machen seit Jahren vor, wie man im Chaos Berlin überlebt. Sowohl die Stadtreinigung BSR als auch die Verkehrsbetriebe BVG sind Meister in Gelassenheit und Selbstironie. Der Witz der Berliner Busfahrer ist ebenso Legende wie die stoischen Müllwerker. Im neuen Videoclip der BVG rappt sich der Neuköllner Kiezstar Kazim Akboga durch Pferde, Sofas, Trompeter, Transen, Turner, eben das ganze Multiminoritätenkabinett in Bus und Bahn. „Wir euch lieben – is euch egal“, heißt der Text. Was das soll? Egal. Geht weiter. Wird schon.

In einer früheren Ausgabe dieses Artikels hatten wir geschrieben, dass Heinz Buschkowsky den Bezirk Neukölln zu einer „No-go-Area“ erklärt habe. Diese Behauptung widerrufen wir als unwahr.


Die Redaktion