Peter Kommnick legte als junger Mann in der DDR Platten auf. Als er einmal den Musikwunsch eines Gastes erfüllte, reagierte die Stasi.

Ganz selbstverständlich bewegt sich der 60-Jährige zwischen den jungen Leuten, die sich an diesem Abend in einem leer stehenden Ladengeschäft an der Veringstraße treffen, in dem ein sogenannter „Pop up Club“ für eine lange Partynacht seine Türen öffnet. Der Senior heißt Peter Kommnick. Er hat dem Partyveranstalter die Musikanlage geliehen. Nachbarschaftshilfe unter Muckern eben, und daher guckt auch niemand blöd, als Peter nun seinen Campingstuhl direkt neben dem DJ-Pult aufklappt und Platz nimmt, eine Cola in der Hand. Tanzen sei nicht sein Ding, meint er, lieber beobachte er jeden Handgriff der jungen Discjockeys. Manchmal nickt er ihnen bei einem besonders gelungenen Übergang zu. Peter weiß schließlich, worauf es ankommt. Denn früher stand er selbst hinter den Plattenspielern. Damals, lange Zeit vor der Wende, hinterm Eisernen Vorhang. An seiner neuen alten Heimat Wilhelmsburg schätzt Peter Kommnick Offenheit und Toleranz.

Im Jahr 1953, als sowjetische Panzer den Arbeiteraufstand in der noch jungen DDR blutig beendeten, kam Peter fernab der Hauptstadt Berlin im Vorpommerschen Pasewalk zur Welt. Schon als Jugendlicher erkannte er, dass die vorgezeichneten Berufswege im selbsterklärten „Arbeiter- und Bauernstaat“ seine musikalische Leidenschaft kaum widerspiegeln würden. In der Woche folgte er dem Trott eines Systems, das ihn nach der Schule in eine Uniform zwang und später in die Produktion steckte. Doch an den Wochenenden packte er seine Plattenschätze in Plastiktüten, schwang sich auf sein Fahrrad und tingelte durch die Jugendclubhäuser der Umgebung. „Wir haben für ein paar Flaschen Bier und belegte Brötchen aufgelegt“, sagt Peter. So hat er damals angefangen als „Plattenunterhalter“.

Ordentlich gekämmt,
Ersatz-Hemd
im Koffer:
Das war Pflicht für
DJ Peter Kommnick
zu DDR-Zeiten
Ordentlich gekämmt, Ersatz-Hemd im Koffer: Das war Pflicht für DJ Peter Kommnick zu DDR-Zeiten © HA | Andreas Laible

Mit Anfang 20 bewarb er sich bei der Gemeindeverwaltung Löcknitz auf die Stelle des stellvertretenden Leiters des örtlichen Jugendclubhauses. Zwar unterlag die Kulturarbeit in der DDR strengeren Bestimmungen als im Westen, doch auf der Tanzfläche entschied letztlich immer das Können des DJs. „Wir haben das Auflegen noch richtig lernen müssen“, sagt Peter und kramt seine „Staatliche Spielerlaubnis für Plattenunterhalter“ hervor.

Wer sich in der DDR zum DJ berufen fühlte, musste sich beim Kreiskabinett für Kulturarbeit für einen einwöchigen Plattenunterhalter-Lehrgang bewerben. „Wenn einer zum Gespräch in Blaumann, Gummistiefeln und ohne Zähne kam, wurde dem gesagt, ‚das wird nichts, kannst wieder gehen!’“, erzählt Peter. „Korrektes Bühnenverhalten“ zählte nämlich zu den elementaren Inhalten des staatlich verordneten Lehrplans, die ein „Kulturpolitischer Mitarbeiter“ aus dem „Fachbereich Tanzmusik und Diskotheken“ am Ende dieser Seminarwoche abfragte.

Peter Kommnick
schätzt an seiner
neuen Heimat
Wilhelmsburg
die Offenheit und
die Toleranz
Peter Kommnick schätzt an seiner neuen Heimat Wilhelmsburg die Offenheit und die Toleranz © HA | Andreas Laible

Die Mentoren begannen ihren Unterricht mit klaren Ansagen wie „Zeigt mir mal euren Kamm“ oder „Jetzt holt mal eure Taschentücher raus“, um die unvorbereiteten Möchtegern-Discjockeys sofort an ihr Versagen aufzuklären: „Wer als Plattenunterhalter im Jugendclubhaus spielen will, hat seine Frisur stets akkurat zu halten, die Schweißperlen von der Stirn zu wischen und mindestens ein Ersatzhemd im Koffer mitzuführen!“

Die Vergütung eines DJs war festgeschrieben und belief sich auf 5,00 bis 8,50 Mark pro Stunde, je nach Erfahrungsgrad. Wiedergabetechnik und Tonträger zählten zum Eigenbestand des DJs und schlugen mit 25 Mark Miete zu Buche. Die Regelsätze dafür konnten Veranstalter der „Pappe“, so hieß die Spiellizenz im Jargon, entnehmen.

Ohne amtlichen
Ausweis ging gar
nichts: Auch die
Preise waren
festgelegt und
vorgeschrieben
Ohne amtlichen Ausweis ging gar nichts: Auch die Preise waren festgelegt und vorgeschrieben © HA | privat

Wer diesen Wisch nicht besaß, konnte von den Vorzügen eines DJ-Lebens nur träumen. „Nach der Party hast du kurz durchs Mikro gefragt, ob jemand eine Penne hat, und dann bist du mit der Schönsten nach Hause gegangen“, erinnert sich Peter und schweigt zu den Details dieser nächtlichen Bekanntschaften.

Damit eine Tanzveranstaltung überhaupt stattfinden konnte, musste die zuständige Polizeidienststelle sie zuvor genehmigen. Entgegen des Klischees unterlag die Musikauswahl zwar keiner gesetzlichen Regulierung. Aber für einen DJ war es immer besser, die ausdrückliche „Empfehlung“, 60 Prozent Musik-Ost und 40 Prozent Musik aus dem kapitalistischen Ausland aufzulegen, zu beherzigen.

In seiner Funktion als „kulturpolitischer künstlerischer Mitarbeiter“ musste auch Peter an Wochenenden in Begleitung einer Funktionärin vom Jugendamt und eines Polizisten durch die Jugendclubs ziehen und die „Pappen“ der Plattenunterhalter kontrollieren. „Ich war nie in der Partei, aber weil ich mich mit Diskotheken auskannte, sollte ich die DJs auf ihre Lizenzen prüfen. Das lief aber immer kollegial und auf Augenhöhe ab“, sagt er. Wie unangemeldete Kontrollen aussehen können, merkte Peter, als er bei einer Open-Air-Party auf dem Alexanderplatz in Berlin der Menge einheizte – bis ihm plötzlich ein Herr in einem beigen Mantel auf die Schulter tippte und ihn aufforderte, ruhigere Stücke anzuspielen, weil er Randale befürchtete.

Eine Visitenkarte
als Empfehlung:
Der „Discotheker“
war auch
telefonisch
erreichbar
Eine Visitenkarte als Empfehlung: Der „Discotheker“ war auch telefonisch erreichbar © HA | privat

An seinen zweiten Kontakt mit der Staatssicherheit kann sich Peter besonders gut erinnern. Den verdankte er dem folgenschweren Musikwunsch eines Partygastes, der sich anlässlich einer privaten Geburtstagsfeier einen Hit von Heino gewünscht hatte. So trug der Wind die Textzeile „Schwarzbraun ist die Haselnuß, schwarzbraun bist auch du ...“ an einem lauen Sommerabend aus einem Vorpommerschen Hinterhofgarten über die gestutzten Hecken hinweg in die falschen Ohren.

Gleich am nächsten Morgen wurde der beliebte Plattenunterhalter „Musikwolke“, so nannte Peter sich damals, zur Staatssicherheit zitiert, Meldung machen. „Ich hab’ vorher die Stones rauf- und runter gespielt und keinen hat’s gejuckt“, sagt Kommnick und lacht. Von da an überlegte er es sich jedoch zweimal, bevor er einen Wunsch erfüllte, obwohl dies damals gang und gäbe war.

Die Beatles oder Rolling Stones auf dem Ostlabel Amiga

Doch bevor eine Platte überhaupt die Aufmerksamkeit der Stasi auf sich ziehen konnte, musste Peter sie erst einmal beschaffen: Die örtlichen Plattenhändler erhielten meistens nur zehn der heiß begehrten „Lizenzscheiben“ des Ostlabels Amiga, auf denen beispielsweise die Beatles oder die Rolling Stones veröffentlicht wurden. Jeder Ost-DJ hatte ein Fach im hinteren Teil des Ladens, wo er dann nach Prüfung seiner amtlichen Lizenz binnen einer Frist von 14 Tagen diese Neuveröffentlichungen erwerben konnte. Westliche Popmusik, die in der staatlichen Prüfstelle durchgefallen war, mussten Kommnick und seine Kollegen zumeist auf Besuchsfahrten aus Polen schmuggeln. „Ich hab’ am liebsten Singles gekauft, weil die sich leichter verstecken ließen“, sagt er und zeigt auf seine breite Brust, die sich wunderbar als Versteck eignete.

Später, als statt der Schallplatten vermehrt Tonbänder in den Clubs zum Einsatz kamen, trafen sich die Plattenunterhalter in „Mitschnittwerkstätten“. Dann reiste ein Mitarbeiter vom Staatlichen Rundfunk aus Berlin in die Provinz und platzierte sich mit seinem Tonbandgerät im Raum. An einer u-förmigen Tischreihe saßen die DJs mit ihren Tonbandgeräten und konnten sich über eine kleine Buchse mit dem Gerät des Radiomannes verbinden. Gefiel Peter ein Stück, drückte er die Aufnahmetaste.

Aus dem Fotoalbum: Peter Kommnick am Plattenteller der „Disco-Theke
Aus dem Fotoalbum: Peter Kommnick am Plattenteller der „Disco-Theke © HA | Andreas Laible

Wenn Peter an diesem Abend der Wilhelmsburger Partyclique heute dabei zuschaut, wie sie zum treibenden Viervierteltakt House-Musik auf dem Betonboden stampft, beeindrucken ihn die reduzierten Gesten des DJs wenig. Denn als Plattenunterhalter in der DDR musste er unterschiedliche Programme für „Weinabende“ oder „Sportveranstaltungen“ einstudieren. Im DJ-Kurs hatten er und seine Kollegen schließlich nicht nur gelernt, die passende Musik auszuwählen, sondern auch kleine Showeinlagen wie Gesang oder Spiele einstudieren müssen, um das Publikum zu amüsieren. Das tat er offenbar ziemlich erfolgreich: Auch die Größen der sozialistischen Kulturpolitik wurden auf sein Talent aufmerksam, die Werktätigen für die Dauer eines Abends ihre Alltagssorgen vergessen zu lassen.

Mit Graus denkt er ans hochprozentige Mischgetränk „Trassen-Bowle“

In jenem Jahr 1989, kurz bevor im November die Mauer fiel, schickte man ihn im September auf seine letzte Tournee. Acht Wochen lang tourte er in einem klapprigen Sowjetbus durch Sibirien, um bei minus 40 Grad die Brigaden beim Trassenbau zu unterhalten. „Das lief im Schichtbetrieb von 19 bis 23 Uhr für die Spätschicht, dann durfte ich bis sechs Uhr schlafen und ab sieben Uhr für die Frühschicht auflegen“, erinnert sich Peter und denkt mit Graus an die „Trassenbowle“, ein Mischgetränk aus hochprozentigen Spuckschlücken, das man aus Milchkannen trank. In den Baracken tanzten die hartgesottenen Arbeiter mit russischen Mädchen am liebsten zu Peter Maffays Hit „Eiszeit“.

Heinos Cover mit dem Hit „Schwarzbraun ist die Haselnuß“
Heinos Cover mit dem Hit „Schwarzbraun ist die Haselnuß“ © Imperial

Jetzt, 25 Jahre nach dem Mauerfall, legt Peter noch ab und zu auf Hochzeiten und Silvesterfeten im Raum Hamburg auf. Er hört gerne Reggae, spielt aber sonst so ziemlich alles von A wie ABBA bis Z wie Zappa. Ein bisschen Nostalgie klebt aber heute noch an seiner Plattentasche, die mittlerweile nur noch einen Laptop enthält: Ein zweites Hemd und den Kamm hat er in seinem Köfferchen immer dabei.