Berlin . Hat es die Kanzlerin wirklich nicht in der Hand, wie viele Flüchtlinge kommen? Eine Analyse

Angela Merkel (CDU) weiß, dass die Flüchtlingskrise die schwierigste Situation ihrer Kanzlerschaft ist. Sie habe es „nicht in der Hand, wie viele Flüchtlinge kommen“, sagte Merkel ungewohnt offen im Fernsehen. Doch was steht tatsächlich in ihrer Macht? Eine Untersuchung der politischen Instrumente.

1. Schärfere Asylgesetze

Kurzfristig könnte das Gesetzespaket helfen, das bald in Kraft tritt. Für Wirtschaftsflüchtlinge reduziert es die Anreize (Sachleistungen statt Geld), ferner versetzt es das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in die Lage, über die Asylanträge von Menschen aus sicheren Drittstaaten rasch zu entscheiden.

2. Finanzhilfen für Flüchtlingslager

Die Kanzlerin hat mit Erfolg darauf gedrängt, dass die EU eine Milliarde Euro zusätzlich zur Versorgung syrischer Flüchtlinge in Nachbarstaaten des Bürgerkriegslandes ausgibt. Das Geld soll etwa an das UN-Welternährungsprogramm WFP und das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR fließen. Je besser die Versorgung, desto geringer der Druck, die Lager in Syrien, Jordanien oder in der Türkei zu verlassen und sich auf den Weg nach Europa zu machen. Es liegt in Merkels Macht und kann helfen.

3. Hotspots an den Außengrenzen

Ein EU-Sondergipfel beschloss, bis Ende November in Italien und Griechenland Registrierungszentren (Hotspots) für Flüchtlinge einzurichten. Dort sollen die Asylbewerber aufgenommen, versorgt, registriert und auf die EU-Staaten verteilt werden. Der Plan ist gut, hat aber einen Haken: Die Partner müssen sich erst auf einen Verteilschlüssel einigen. Eine Verständigung darüber steht aus. Merkel bohrt ein dickes Brett, aber dürfte Erfolg haben.

4. Die Türkei als Pufferzone

Angela Merkel hat viel auf diese Karte gesetzt und ist in eiliger Mission in die Türkei gereist. Das Ergebnis ist allerdings ernüchternd. Ein Rückführungsabkommen wird erst 2017 in Kraft treten. Die Türkei stellte in Aussicht, bis dahin ihre Grenzen besser zu schützen, Hilfe von der EU-Agentur Frontex „zu prüfen“ und aggressiver gegen Schlepperbanden vorzugehen, die überwiegend dort zu Hause sind. Nur: Die Türkei steht selbst unter Druck. Sie versorgt schon über 2,5 Millionen Flüchtlinge. Die Zahl der Binnenflüchtlinge in Syrien wird auf sieben Millionen geschätzt. Im Moment nehmen die Kämpfe zum Beispiel um Aleppo an Härte zu, so dass die Türkei befürchten muss, dass mehr Flüchtlinge kommen. Für sie würde sie sogenannte safe zones auf der syrischen Seite der Grenze einrichten. Merkel hält wenig von der Idee. Es wird Jahre dauern, bis die Kanzlerin die Türken eingespannt hat.

5. Transitzonen

Die jüngste Idee. Der CDU-Innenexperte Wolfgang Bosbach sieht im Aufbau von Transitzonen an der Grenze zu Österreich einen Vorteil: „Zumindest könnte man dann über offensichtlich unbegründete Anträge rascher entscheiden.“ Die Menschen würden dann gar nicht erst auf die Kommunen verteilt, sondern umgehend wieder zurückgeschickt. So ein Verfahren wird schon in den Transitzonen an den Flughäfen angewandt. Wie an den Airports müsste sichergestellt werden, dass die Menschen die Transitzonen nicht verlassen können und nach einer Zurückweisung nicht über die grüne Grenze kommen – also unkontrolliert einreisen. Der Chef der Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, löste mit der Forderung nach Grenzzäunen eine Kontroverse aus. Merkel will beim Koalitionspartner dafür werben. Die SPD hat die Tür nicht zugeschlagen, ist aber reserviert. Transitzonen wären einen Versuch wert, sie würden den Flüchtlingsstrom bremsen.

6. Grenzen dicht machen

Eine Gruppe um den CDU-Abgeordneten Christian von Stetten bereitet einen solchen Antrag vor. Der „Bild“ sagte er, „auch eine Prüfung einer Grenzbefestigung darf kein Tabu sein.“ Der Antrag soll in zwei Wochen diskutiert werden. Er sei zwar „der festen Überzeugung“, dass die Regierung einen wirksamen Plan habe, um den unkontrollierten Flüchtlingsandrang zu stoppen. Doch „sollte sich in der nächsten Woche herausstellen, dass diese Annahme falsch war, muss unsere Fraktion reagieren“. Merkel müsste zum Handeln getrieben werden. Realisierungschance: gering.

7. Familiennachzug einschränken

98 Prozent der Flüchtlinge aus Syrien erhalten ein Bleiberecht nach der Genfer Flüchtlingskonvention. Das gilt für drei Jahre. Bis dahin wird geprüft, ob die Verhältnisse im Herkunftsland eine Rückkehr erlauben. Die Familie darf nur nachziehen, wenn der Flüchtling den Lebensunterhalt und einen angemessenen Wohnraum garantieren kann. Nun gibt es in Unionskreisen immer häufiger die Forderung, den Familiennachzug für Flüchtlinge ersatzlos zu streichen. Sie stoßen bei Merkel nicht auf taube Ohren. Es ist der Plan mit den besten Realisierungschancen.

8. Einschränkung des Asylrechts

Viele in der Union fordern Obergrenzen. Sie beißen bei Angela Merkel auf Granit. Es gibt keine realistische Aussicht auf eine Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat, um den Artikel 16 einzuschränken. Die meisten Neuankömmlinge erhalten kein Asyl, sondern ein Bleiberecht. Das heißt: Eine Änderung wäre ein großer politischer Kraftakt – und würde doch wenig bringen.

9. Resettlement

Es ist eine Idee, deren Zeit nicht gekommen ist, aber von Experten gedanklich durchgespielt wird. Resettlement ist ein Verfahren zur Aufnahme von Flüchtlingen, meist kleine Kontingente mit 10.000 oder 20.000 Plätzen. Wenn man sie europaweit und massiv ausweiten würde, ergäben sich einige Vorteile. Die Flüchtlinge würden in den Lagern in Syrien, Jordanien oder in der Türkei bleiben und sich dort bewerben. Damit hätte sich zugleich das Geschäftsmodell der Schleuser erledigt. Vor allem könnte man präziser steuern, wie viele und wer wann kommen darf. Das klingt kühn. Tatsächlich würde auch dieser Plan eine Änderung des Grundgesetzes erfordern. Die Rechnung geht nur auf, wenn die Kontingente großzügig – mehrere Hunderttausend Plätze - sind, jedes EU-Land mitmacht und an den Außengrenzen die Flüchtlinge abgewiesen werden, die auf eigene Faust losziehen statt sich um ein Resettlement-Programm zu bemühen. Bisher hat Merkel das Instrument nicht im Baukasten entdeckt. Es wäre ein Plan, für den sie eine Mehrheit der Union gewinnen und mit dem sie in den Wahlkampf ziehen könnte - ein Neustart der Asylpolitik. Aber in diesem frühen Stadium bleibt unklar, ob Merkel auf den Reset-Knopf drücken würde.