Der Kinderfreibetrag hätte bereits 2014 steigen müssen. Bis Ende März will die Regierung jetzt über die gesetzlich gebotene Anhebung entscheiden

Berlin. Manuela Schwesig (SPD) treibt ein Ziel um. Die Bundesfamilienministerin will erreichen, dass die Kinderrechte im Grundgesetz verankert werden. Das wäre mal ein „starkes Signal“, meinte die Sozialdemokratin. Aus Sicht der Politikerin mag ein solcher Schritt auch deshalb so viel Charme haben, weil er nichts kostet. Denn wenn es um eine finanzielle Entlastung von Familien geht, ist diese Bundesregierung nicht gerade spendabel. Im Gegenteil: Wie der von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) vorgelegte Bericht zum Existenzminimum zeigt, der am Mittwoch vom Kabinett beschlossen wurde, werden Eltern derzeit sogar über Gebühr in der Einkommenssteuer belastet. Denn der Kinderfreibetrag hätte bereits 2014 steigen müssen. Und in aller Regel hätte dies auch eine Anhebung des Kindergeldes bedeutet – so wie dies Union und SPD im Wahlkampf auch versprochen hatten. Doch während die Hartz-IV-Sätze für Erwachsene und für Kinder stets zum Jahresbeginn angehoben wurden, um das Existenzminimum sicherzustellen, wurden Eltern bisher vertröstet. Nun will die Große Koalition bis Ende März über eine Entlastung der Familien entscheiden.

Die Sparsamkeit in der Familienpolitik steht im scharfen Kontrast zu der Freigiebigkeit, die die Große Koalition im ersten Regierungsjahr gegenüber den Älteren gezeigt hat. Mit der Mütterrente und der Rente mit 63 haben SPD und Union ihre jeweiligen Versprechen aus dem Wahlkampf durchgesetzt. In Windeseile wurde so ein Rentenpaket geschnürt, das bis 2030 Kosten von 160 Milliarden Euro verursacht. Während die Koalitionäre ihre teuren Rentenversprechen schlicht addiert haben, passierte in der Familienpolitik genau das Gegenteil: Weder die SPD noch die Union pochten in den Koalitionsverhandlungen darauf, ihre Ankündigungen umzusetzen.

So hatten CDU und CSU im Wahlprogramm in Aussicht gestellt, den Kinderfreibetrag auf das deutlich höhere Niveau des Grundfreibetrags eines Erwachsenen anzuheben. Das alternativ zum Freibetrag gewährte Kindergeld wollte die Union um rund 30 Euro anheben. Die SPD versprach Familien mit niedrigem Einkommen gar eine Anhebung des Kindergelds von 184 Euro auf bis zu 324 Euro im Monat.

Doch passiert ist bisher gar nichts. Schäuble ignoriere nonchalant die Verfassung und habe 2014 noch nicht einmal das steuerliche Existenzminimum für Kinder freigestellt, sagte die grüne Steuerexpertin Lisa Paus: „Die verschleppte Erhöhung des Kindergelds für 2014 muss sofort nachgeholt werden.“ Allein im vergangenen Jahr haben Eltern somit 110 Millionen Euro zu viel an Steuern gezahlt.

Denn das Grundgesetz schreibt vor, dass der Fiskus das Existenzminimum sowohl für Erwachsene als auch für Kinder steuerfrei stellen muss. Dies wird durch Freibeträge oder das Kindergeld sichergestellt. Zunächst wird monatlich Kindergeld ausgezahlt, nach Ablauf des Jahres wird dann festgestellt, ob der Freibetrag jeweils günstiger ist. Die Differenz wird im Steuerbescheid verrechnet. Für rund 20 Prozent der Kinder bringt der Freibetrag eine größere Entlastung als das Kindergeld. Anders als bei den Freibeträgen ist der Gesetzgeber beim Kindergeld nicht zur Anpassung verpflichtet. Zuletzt wurde das Kindergeld 2010 erhöht. Derzeit beträgt es für das erste und zweite Kind je 184 Euro monatlich, für das dritte Kind 190 Euro und für das vierte und jedes weitere Kind 215 Euro. Eine Anhebung um einen Euro kostet jährlich rund 200 Millionen Euro.

Die Bundesregierung will bis Ende März über den Umfang der Entlastungen für Familien entscheiden. Der Existenzminimumbericht stellt für dieses und für kommendes Jahr eine Anhebung des Kinderfreibetrags in Aussicht. Ob und wann das Kindergeld angehoben wird, steht noch nicht fest. „Zehn Euro ist schon eine vernünftige Summe, die wir nicht unterschreiten sollten“, sagte die parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Fraktion, Christine Lambrecht.

Familienverbände halten dies für viel zu wenig. „Familien können nicht mehr nachvollziehen, warum Kinderfreibetrag und Kindergeld nur um das verfassungsrechtliche gebotene Minimum angehoben werden sollen, und das auch nur nach mehrmaliger Aufforderung“, sagte der Präsident des Familienbundes der Katholiken, Stefan Becker: „Eine solche Vorgehensweise ist Ausdruck dafür, welchen nachgeordneten Stellenwert Familien in der Politik haben.“ Der Verband hält eine Anhebung des Kinderfreibetrags auf den für Erwachsene geltenden Freibetrag für notwendig, um die Kosten für Kinder realitätsgerecht steuerlich zu berücksichtigen. „Es gibt keinen Grund, den Kinderfreibetrag niedriger anzusetzen als den Freibetrag eines Erwachsenen. Die Ausgaben für den Lebensunterhalt eines Kindes liegen oft noch über denen eines Erwachsenen“, so Stefan Becker. Auch beim Kindergeld hält der Familienbund eine deutliche Aufstockung für geboten.

Für den Demografieforscher Reiner Klingholz ist es kein Zufall, dass SPD und Union die rentenpolitischen Wahlversprechen rasch umgesetzt haben, während man die Jüngeren hinhält. Der Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung verweist auf den gesellschaftlichen Wandel: „Es sind die Älteren, die die Wahlen entscheiden.“ Zum einen wachse der Bevölkerungsanteil der über 60-Jährigen stark an. Zum anderen gingen Ältere häufiger zur Wahl, womit ihr Stimmengewicht vergrößert werde. „Die Politiker registrieren, dass sie ohne Zustimmung der Älteren kein Gesetz mehr durchbringen“, so Klingholz. Zwar hätten die Älteren nicht nur ihre eigenen Interessen im Blick. Schließlich habe die Mehrheit von ihnen Kinder und Enkel. „Doch die Politik handelt in einem vorauseilenden Gehorsam und macht Politik für die Alten.“ In der Rentenpolitik sei dies schon seit Längerem zu beobachten.