Seit Gerhard Schröders Agenda 2010 scheuen Parteien unpopuläre Neuerungen

Berlin. Fünf Millionen Arbeitslose meldete die „Bild“-Zeitung in großen Lettern vor zehn Jahren, im Januar 2005. Es handelte sich um den höchsten Stand in der Nachkriegszeit, weitere solcher traurigen Rekorde sollten folgen. Die Zahl der Erwerbslosen stieg in den folgenden Wochen gar auf 5,2 Millionen, etwa doppelt so hoch wie heute. „Vom Sommer an geht die Arbeitslosenzahl in einen Gleitflug nach unten“, sagte Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement (SPD) Anfang 2005; er übte sich seit je in sturem Zweckoptimismus. Ein Dreivierteljahr später war Clement seinen Job los und mit ihm der Bundeskanzler und die meisten Minister der rot-grünen Regierung. Clement war der zuständige Minister für das zum 1. Januar 2005 eingeführte Arbeitslosengeld II, das im Volksmund bis heute Hartz IV heißt. Jenes Hartz IV brachte die politischen Verhältnisse in Deutschland zum Tanzen wie kein anderes Gesetz zuvor.

Der Verdruss über Hartz IV beendete am 22. Mai 2005 die 39-jährige Herrschaft der SPD in Nordrhein-Westfalen. Diese führte zum Scheitern von Rot-Grün in Berlin, der Niederlage von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD), dem Aufstieg von Angela Merkel (CDU) zur Kanzlerin einer Großen Koalition 2005 – und der Bildung der Partei Die Linke. Deren Wahlerfolge und der allgemeine Ärger über Hartz IV beeindruckten alle Parteien.

Dem reformpolitischen Eifer, zelebriert auf einem CDU-Parteitag in Leipzig 2003, hatte Merkel als Kanzlerin abgeschworen. Ihren „Schattenminister“, den Reformer Paul Kirchhof, berief sie nicht ins Kabinett. Undankbare Aufgaben, wie die von ihrer Partei einst geforderte Rente mit 67, ließ sie von anderen exekutieren, in diesem Fall durch Arbeitsminister Müntefering. Die Rente mit 67 war Merkels letzte unpopuläre innenpolitische Entscheidung.

Für PDS und WASG war die Rente mit 67 ein Wahlhilfe-Programm. Lafontaines Projekt einer Fusion von PDS und WASG erfüllte sich im Jahre 2007 mit der Herausbildung der Partei Die Linke. Der gelang in den folgenden Jahren der Einzug in diverse westdeutsche Landtage. Die Volksparteien beobachteten das mit Argusaugen.

Weite Teile von CDU, CSU und SPD drückten deshalb auf die reformpolitische Bremse. So setzte der neue NRW-Ministerpräsident Rüttgers auf dem CDU-Bundesparteitag 2006 einen Antrag durch, wonach die Bezugsdauer für das (von Rot-Grün) beschlossene Arbeitslosengeld I verlängert werden sollte. Es war eine reformpolitische Rolle rückwärts, mit der ein zentraler Baustein von Schröders Reformen abgeräumt werden sollte. Merkel schwieg. Die SPD zürnte zunächst: „Ungerecht und falsch“, nannte deren neuer Vorsitzender Kurt Beck diese Idee. Wenig später aber begegnete Beck dem Populismus der CDU mit: Populismus. Becks Ruf „Immer mal langsam mit de Leut!“ eröffnete die Distanzierung von Schröders Politik. Der Altbundeskanzler reagierte darauf mit einer frappierenden Flexibilität. „Die Agenda sind nicht die Zehn Gebote“, meinte Schröder.

Beck brachte die SPD dazu, ebenfalls für eine längere Zahldauer des ArbeitslosengeldesI zu votieren. Er sprach von einer „Weiterentwicklung“ der Agenda. Die Zahl der Arbeitslosen lag Mitte 2007 bei nur noch 3,5 Millionen. Unionspolitiker wie der thüringische Ministerpräsident Dieter Althaus, Edmund Stoiber und Horst Seehofer verlangten, das Arbeitslosengeld II anzuheben; sie verwiesen unter anderem auf höhere Butterpreise. Müntefering, der letzte Reformer, zürnte.

Mit Elterngeld und dem Mindestlohn in diversen Branchen betrieb die erste Merkel-Regierung eine expansive Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Einst recht laut verlangte „Einschnitte“ vermied auch die von Union und FDP gebildete zweite Merkel-Regierung. „Ich habe kein Problem mit dem Wort Mindestlohn“, sagte Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) und setzte dieses Projekt in etlichen Branchen durch. Widerstand zeigte die desolat agierende FDP allenfalls rhetorisch.

Mit einem milliardenschweren Geldsegen für die Rentner begann die Arbeit der amtierenden Regierung Merkel III. Die von der Union geforderte Mütterrente und das SPD-Projekt Rente mit 63 (nach 45 Beitragsjahren) wurden von Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) umgesetzt.

Zu dem weitsichtigen „großen Wurf für die Bundesrepublik Deutschland“, der von Angela Merkel im Jahre 2003 angemahnt worden war, hat sich ihre Regierung noch nicht durchgerungen.