Deutsche werden bei gleicher Qualifikation bevorzugt. Beim Integrationsgipfel kommt das Problem jetzt auf den Tisch

Berlin. Mehr als 250 Bewerbungen hat Fatih Özkan geschrieben. Zu Hause hat der 26-Jährige die ganzen Unterlagen aufbewahrt: Sie füllen drei Aktenordner. Drei Jahre lang kamen nur Absagen – oder Özkans Bewerbungen blieben gleich unbeantwortet. Dabei hatte der junge Mann keine üblen Noten. In Deutschland gibt es viele junge Leute, denen es so geht wie ihm. Jugendliche aus Zuwandererfamilien haben bislang auch bei gleicher Qualifikation schlechtere Chancen auf einen Ausbildungsplatz. Sie müssen deutlich mehr Bewerbungen schreiben, um zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden.

Dies Problem belegte erst kürzlich eine Studie. Wissenschaftler verschickten Tausende fiktive Bewerbungen von gleich gut qualifizierten jungen Männern – die einen mit deutschem, die anderen mit türkischem Namen. Das Ergebnis: Der türkische Name entpuppte sich als echtes Hindernis bei der Suche nach einer Lehrstelle.

Bei Fatih Özkan meldete sich bei den Hunderten Versuchen nur eine einzige Firma zurück: die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG), Deutschlands größtes Nahverkehrsunternehmen. Inzwischen ist Özkan dort im zweiten Lehrjahr und wird Gleisbauer. Die BVG stört sich nicht an fremd klingenden Namen. Im Gegenteil. Das Unternehmen bemüht sich darum, junge Leute mit Zuwanderungsgeschichte für sich zu gewinnen. Im vergangenen Jahr lag ihr Anteil unter den BVG-Auszubildenden bei fast einem Drittel.

Die Kanzlerin nimmt das zum Anlass für einen Besuch bei der BVG. Es ist Montagmorgen, als Angela Merkel gemeinsam mit der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung, Aydan Özoguz (SPD), in einem Bus auf den Hof des BVG-Ausbildungszentrums fährt. Am Steuer: ein Azubi im dritten Lehrjahr. Merkel und Özoguz steigen aus und lassen sich durch penibel aufgeräumte Werkstätten führen, bestaunen Fräsmaschinen und Gleisbauarbeiten und plaudern mit den aufgereihten Lehrlingen.

Irgendwann landen sie bei Fatih Özkan in der Schmiede. Der junge Mann hämmert dort mit seinem Kollegen für die Kanzlerin ein glühendes Stück Stahl zurecht. Merkel setzt ein anerkennendes Gesicht auf, nimmt einen übergroßen Hammer in die Hand und wiegt ihn in der Hand, bedankt sich zum Schluss freundlich und zieht dann weiter mit ihrem Tross.

Der nächste Termin wartet: Merkel hat Wirtschaftsvertreter, Fachleute, Gewerkschafter und Migrantenorganisationen ins Kanzleramt eingeladen, um über die vielen Fälle zu reden, in denen es nicht so gut läuft wie bei der BVG. Seit Jahren veranstaltet Merkel solche Treffen mit dem Titel „Integrationsgipfel“. Ihnen haftet der Vorwurf an, es handele sich allein um Symbolpolitik ohne konkrete Ergebnisse.

„Jeder weiß: Deutschland wird immer vielfältiger“, sagt Merkel und verweist auf den im vergangenen Jahr mit 1,2 Millionen Zugezogenen höchsten Einwanderungsstand seit 20 Jahren. Deutschland komme dabei einerseits seiner „humanitären Verpflichtung“ nach, indem es Not leidende Menschen aus der ganzen Welt aufnehme. Andererseits sei Deutschland aber auch aus wirtschaftlichen Gründen „interessant und attraktiv“ und biete jungen Migranten aus Europa die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Damit erwachse dem Land eine Chance, aber auch eine Herausforderung. Merkel verweist auf die im Koalitionsvertrag vereinbarte Allianz für Aus- und Weiterbildung, welche die Situation für Migranten im Bildungsbereich verbessern soll. Dafür bedürfe es der Mitwirkung des Staates, der Wirtschaft und der Migranten selbst.

Aber viel Greifbares liefert der Gipfel auch in diesem Jahr nicht. Stattdessen gibt es viele warme Worte. Merkel und Özoguz beklagen, es dürfe nicht sein, dass eine Bewerbung allein am Namen scheitere. Junge Leute bräuchten gleiche Berufschancen – unabhängig von ihrer Herkunft. Wichtig sei auch, junge Leute aus Zuwandererfamilien besser über Ausbildungsoptionen zu informieren – und deren Eltern. „Wir müssen da noch besser werden“, sagt Merkel. Langsam bewege sich zwar etwas, „aber das Tempo könnte gesteigert werden“. Wie genau, das lässt sie offen.

Immerhin will die Regierung nun beginnen, genauer hinzuschauen, wie viele Menschen aus Zuwandererfamilien in ihren eigenen Ministerien und den angedockten Behörden arbeiten – um sich im nächsten Schritt konkrete Zielmarken setzen zu können. Im öffentlichen Sektor sind Migranten besonders unterrepräsentiert.

Eine andere Forderung kommt von der Türkischen Gemeinde und der Antidiskriminierungsstelle des Bundes: Sie appellieren an öffentliche und private Arbeitgeber, verstärkt anonyme Bewerbungsverfahren zu nutzen. Merkel reagiert darauf wenig überschwänglich. „Es ist möglich, das heute schon zu machen“, sagt sie knapp. Die Erfahrungen damit seien auch ganz gut. Aber lieber wäre ihr ein Land, „in dem man nicht erst mal guckt, wie der Mensch heißt“. Eine Bewerbung, wo zum Beispiel Özoguz draufstehe, müsse die gleichen Chancen habe wie jede andere. Ein Rezept dafür liefert sie nicht mit.

Laut Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände zeigen Erfahrungen im Ausland zudem, dass die erhofften positiven Effekte nicht belegbar sind. Anonyme Bewerbungen brächten Mehraufwand und höhere Kosten. Angesichts des Wettbewerbs um Talente und des Fachkräftemangels könnten Unternehmen es sich nicht leisten, geeignete Bewerber nach unsachlichen Kriterien auszuwählen.