Parteichef Cem Özdemir steht mit seiner Forderung nach Waffenlieferungen an die Kurden in Syrien und im Irak nicht mehr allein da. Weitere Beschlüsse zur Friedenspolitik und zu einer Agrarwende.

Hamburg. Vier Stunden dauert das Ringen der Grünen, laut hallt es zwischendurch im Saal, tosend, zornig, dann wird es plötzlich ganz leise, nachdenklich, auch ratlos, bevor es wieder tobt. Hier in der Sporthalle in Alsterdorf findet eine der wichtigsten Runden in der außenpolitischen Kursbestimmung der Grünen in den vergangenen 15 Jahren statt. Die Ukraine, Russland, die Terrormiliz „Islamischer Staat“ und Syrien haben der Partei diese Auseinandersetzung aufgezwungen. Seit der Beteiligung der Bundeswehr an den Nato-Einsätzen im Kosovo Ende der 90er-Jahre und in Afghanistan, die die Grünen mitgetragen haben, geht es nun erstmals wieder darum, was denn der Leitsatz der Grünen eigentlich noch bedeutet: „Nie wieder Krieg“.

Zwar haben sie schon vor mehr als zehn Jahren klargestellt, dass sie in Zukunft grundsätzlich nur noch deutschen Militäreinsätzen zustimmen wollen, die sich unter dem sicheren Schutz eines Mandats der Vereinten Nationen bewegen. Doch die aktuellen Krisen stellen neue Fragen, dramatisch wachsende Flüchtlingsbewegungen drängen zu neuen Antworten. Und so müssen die Grünen auf dem Parteitag in Hamburg klären, welche Entsetzlichkeiten in der Welt sie dazu bewegen können, von ihren Grundsätzen abzuweichen. Das könnte bedeuten, notfalls auch ohne Uno-Mandat Bundeswehrsoldaten auf den Weg zu schicken oder Waffen in Krisengebiete zu liefern. Es geht um die Frage deutscher Verantwortung.

Parteichef Cem Özdemir hatte sich früh festgelegt, dass die Kurden im Nordirak im Kampf gegen die Terrormiliz IS Waffen aus Deutschland erhalten müssten. Er hatte seine Position in dem Satz verdichtet, dass die Kurden die brutale IS-Miliz nicht „mit der Yogamatte unterm Arm“ besiegen könnten. In der Bundestagsfraktion war er damit fast allein, die meisten Grünen-Abgeordneten lehnten die von der schwarz-roten Koalition geplanten Transporte ab.

Auf dem Parteitag untermauert Özdemir seine Forderung mit erschütternden Eindrücken aus den Flüchtlingslagern rund um das nordirakische Erbil, das er vor einer Woche besucht hatte. Die erfahrene Außenpolitikerin Marie-Luise Beck springt ihm bei: „Wir können Flüchtlinge aufnehmen“, ruft sie. „Aber wenn weiter getötet wird, können wir nicht die Länder leer räumen für die Aggressoren.“ Und sogar Theresa Kalmer, die Vorsitzende der links stehenden Grünen Jugend, ruft: „Humanitäre Hilfe reicht nicht.“

Ganze Region ein gigantisches Waffenlager

Der stellvertretende Fraktionschef Frithjof Schmidt hält dagegen: „Keine Waffenexporte in Krisengebiete, das ist und bleibt richtig.“ Und Claudia Roth bringt den Saal zum Jubeln mit ihrer Feststellung: „Die ganze Region ist doch ein gigantisches Waffenlager.“ Die Delegierten erheben sich zum Applaus von ihren Stühlen. „Die Debatte um die Waffenlieferung hat gezeigt, dass sich die Grünen nicht mehr in Lager aufteilen lassen“, sagt die Hamburger Bundestagsabgeordnete Anja Hajduk dem Abendblatt. Diskutiert werde quer durch die politischen Flügel der Partei.

Die folgende Abstimmung zeigt, wie wenig Klarheit die Partei in der Frage der Waffenlieferungen hat. Als die fast 700 Delegierten ihre Hände zur Entscheidung heben, ist das Meinungsbild unklar. Eine schriftliche Abstimmung wird angesetzt. Heraus kommt ein Ergebnis wie ein Symbol: 313 Stimmen gegen Waffenlieferungen in Kampfgebiete und 299 Stimmen, die das nicht ausschließen wollen. Özdemir hat zwar verloren, aber so knapp, wie er es selbst wohl nicht zu hoffen gewagt hatte. „Das Ergebnis zeigt, dass die Gruppe der Befürworter von Waffenlieferungen an die Kurden bei den Grünen gar nicht so klein ist“, sagt der Hamburger Bundestagsabgeordnete Manuel Sarrazin dem Abendblatt. Sowohl er als auch Anja Hajduk hatten im Bundestag für die Lieferungen gestimmt.

Damit erweisen die Grünen Özdemir, dem Realo-Mann an der Parteispitze, zumindest großen Respekt. Sie gestehen ein Zweifeln ein, ob dieses „Nie wieder Krieg“ heutzutage noch mit unumstößlichen Prinzipien eingelöst werden kann. Und zeigen in dieser Frage Unentschlossenheit. „Die Grünen zeigen, dass sie lebhaft debattieren können. Und niemand will es sich bei der Frage nach Waffenexporten leicht machen“, sagt Hajduk.

Özdemir ist damit nach Winfried Kretschmann der zweite Realo-Politiker, der auf dem Parteitag für seinen anfänglichen Alleingang gegen die Linie der Führungsriege späten Rückhalt hinter sich bringen kann. Denn der baden-württembergische Ministerpräsident Kretschmann schaffte es, mit einer nachdenklichen Rede breite Unterstützung für seine Zustimmung zur umstrittenen Asylrechtsreform der schwarz-roten Koalition vor acht Wochen im Bundesrat auf die Beine zu stellen. Kretschmann war anfangs Anfeindungen ausgesetzt gewesen, weil er sich auf einen Verhandlungskompromiss mit dem Kanzleramt eingelassen hatte. „Nur wer Kompromisse macht, kann auch von anderen welche erwarten“, rief er. Und erntete lange Beifallsstürme. Anträge aus der Partei, Kretschmann für seinen Kurs in der Asylpolitik ausdrücklich in die Schranken zu weisen, fielen auf dem Parteitag durch.

So fühlen die Realo-Grünen Rückenwind. Kretschmann und Özdemir könnten für einen neuen Weg der Verantwortung bei den Grünen stehen, sagt ein Weggefährte. Da schöpfen einige Verbündete die Hoffnung, mit weiteren Vorstößen etwa in der Steuerpolitik den Kurs in Richtung einer schwarz-grünen Annäherung zu steuern. Gefeiert wurde auf der Parteitagsbühne allerdings auch die Einigung auf einen rot-rot-grünen Koalitionsvertrag in Thüringen.