Serie Mauerfall, Teil 11: Trabi- und Wartburgfahrer werden mit Begeisterung in der Stadt begrüßt. Wegen Andrangs aus dem Osten ist die Mönckebergstraße gesperrt. Ein Rückblick

Auffällig ist sie wirklich nicht, aber vielleicht fällt der Blick gerade deswegen auf die Frau mit dem beigefarbenen Wollmantel und der hellblauen Strickmütze. Offensichtlich ratlos steht sie vor dem Chilehaus, mal nach rechts, mal nach links blickend. „Wohin des Weges? Kann ich irgendwie helfen?“ Diese Frage ist nichts Besonderes. Ohnehin nicht und an diesem Sonnabend erst recht nicht. Er wird in meine persönliche Lebensgeschichte eingehen. Unvergessen und immer noch präsent, als sei es gestern gewesen.

Neun Tage zuvor ist die Mauer gefallen, die Deutschland trennte und so viel Schmerz und Kummer brachte. Ein Traum wurde wahr, dessen reale Umsetzung ich nie und nimmer für möglich gehalten hätte. Mein Herz hüpft: in Frieden wiedervereint! Was für ein gigantisches Glücksgefühl – das übrigens im Prinzip bis heute anhält. Auch wenn viele Kleingeister nörgeln und unken: Ein politisches Wunder ist vollbracht. Von unten, vom Volk.

Die Frau am Burchardplatz in der Innenstadt, wahrscheinlich Mitte 30, reagiert erfreut und offenherzig. Keine Frage, sie kommt von „drüben“. Wie so viele an diesem zweiten Wochenende nach der Wende mit geöffneten Grenzübergängen.

Sie suche die U-Bahn Messberg, sagt die Frau, und wolle von dort Richtung Hoheluftchaussee. Das steht auf einem kleinen Schmierzettel. Sie wolle in die Wrangelstraße 113. Dort habe ein Teil ihrer Familie vor der Trennung des Landes gewohnt. Nun endlich könne sie sich ein Bild machen von der Gegend.

Was tun, wenn man keine Ahnung von öffentlichem Nahverkehr hat und Smartphones mit hilfreichen Apps noch Fremdwörter sind? „Darf ich Sie hinfahren?“ Auch diese Frage kommt fast automatisch. Die Erledigung im Verlag hat Zeit. Ist ja eigentlich sowieso Ruhetag. Etwas erstaunt, indes erfreut, nimmt sie das Angebot an. Also rein in den unverwüstlichen Käfer, Baujahr 1967, immerhin zehn Jahre jünger als ich.

Es geht nur langsam voran. Alles ist vollgeparkt, selbst die Bürgersteige: Ladas, Wartburgs und Skodas, Stoßstange an Stoßstange. An vielen Außenspiegeln hängen Bananen oder Plastiktüten mit Orangen, hinter Scheibenwischern klemmen Schokoriegel. Ich bin peinlich berührt, sie jedoch findet das rührend. Wegen des Andrangs aus dem Osten ist die Mönckebergstraße für den Verkehr gesperrt; auch rund um den Bahnhof geht gar nichts mehr. Erstaunlich an diesem ganz besonderen 18. November 1989: Die Menschen reagieren gelassen auf das Chaos, sind bei sonnigem Wetter freundlich wie selten. Weit mehr als 100.000 DDR-Bürger, schätzt die Polizei später, haben sich an diesem Wochenende auf den Weg nach Hamburg gemacht. Was vorher unerreichbar war, liegt plötzlich so nahe. Die noch unbekannte Beifahrerin heißt Nicole. Klar, dass an einem solchen Tag auch das Du nahe liegt.

Zwischen Gänsemarkt und Dammtor überall das gleiche Bild: Ost-Auto an Ost-Auto. Passanten stehen im Schnack beisammen. Helfer verteilen eine Sonderausgabe des Hamburger Abendblatts – herausgegeben in Zusammenarbeit mit dem Senat unserer Hansestadt. Die Überschrift: „Herzlich willkommen!“ Von A bis Z ist aufgelistet, was beim Premierenbesuch hilfreich sein kann. Das Grußwort auf der Titelseite stammt von Bürgermeister Henning Voscherau.

Stop and Go auf der Grindelallee. Hupkonzerte, aber vor Freude. Hamburger auf den Gehwegen winken Trabi- und Wartburgfahrern zu. Begeisterung wie nach einem WM-Triumph. Mit dem Unterschied, dass es jetzt um Wichtigeres geht – und vor allem, dass alle gemeinsam feiern können.

Die halbe Stunde vor dem Haus Wrangelstraße 113 beschert einen Kontrast im Vergleich zum Tohuwabohu zuvor. Nachdenklichkeit (und ein bisschen viel Schweigen) auf beiden Seiten. Sie wuchs auf der einen Seite der Mauer auf, ich auf der anderen. Also stellte die Geburt Weichen. Nur welche? Und was ist wichtig im Leben? Meinungsfreiheit mehr als Marzipan? Themenwechsel. Nicoles persönlicher Werdegang würde eine ganze Zeitung füllen. Und noch mehr. Daher in Kürze: Sie war und ist Lehrerin, wohnte und wohnt in einem Ort bei Hagenow in der Nähe von Ludwigslust. Das klingt nach böhmischen Dörfern und so weit weg war es ja auch. Gefühlt. Bis zum November vor 25 Jahren. Und sie hat sich an diesem Sonnabend spontan auf den Weg gemacht, das andere, fremde Deutschland zu besuchen. Im Sonderzug nach Hamburg, in die Stadt ihrer Großeltern. Bisher klang es wie der Aufbruch zu einem fremden Planeten. Unerreichbar. Etwas unheimlich sogar.

„Erstaunlich, die spricht ja wie wir“, schießt es mir auf der Rückfahrt durch den Kopf. Bisher verband ich DDR – auch sprachlich – immer mit Typen wie Honecker und Genossen. Traurig, aber wahr: Meck-Pomm war für uns weiter weg als Paris oder Lissabon. Wir hatten Freunde in England und den Niederlanden, aber nicht jenseits der Mauer. Jedenfalls spricht Nicole wunderbares Norddeutsch. Sie ist stolz und bescheiden. Eine beeindruckende Kombination.

Außerdem ist sie glücklich verheiratet und hat eine Tochter. Hat sie im Käfer nebenbei erzählt. Sicher ist sicher. Natürlich geht es an diesem 18. November 1989 um Gefühle, um große, um zwischenmenschliche sogar. Aber in diesem Fall in einem ganz anderen Sinne. Zurück in die Innenstadt, auf einen Kaffee. Auch am Jungfernstieg und in den Nachbarstraßen reichen sich bisher Fremde die Hände. Das ist viel bedeutender als der Kommerz allerorten. Wahrscheinlich um ihren Gefühlen Luft zu machen und irgendein äußeres Zeichen deutsch-deutscher Verbundenheit zu setzen, ist schon fünf Wochen vor dem Heiligen Abend so etwas wie Weihnachten: Geschenke prägen den Tag. Die Gaben an den Autospiegeln und Scheibenwischern werden immer mehr. Auf Motorhauben liegen Plüschtiere, Marzipanbrote oder Stofftiere vom Dom. Ich bin erneut beschämt, sage es auch so, doch sie sieht es anders: „Welch warmherziges Willkommen.“

Details werden erst später bekannt. Mehr als 500 Trabifahrer plus Begleitung verbringen die Nacht am Hauptbahnhof – in ihren Autos schlafend. Banken müssen die Polizei zur Hilfe rufen. Sie zahlen Begrüßungsgeld aus, die Schlangen werden immer länger. Auch vor dem Postamt 12 am Hühnerposten geht kaum noch etwas. Flugblätter mit Tipps für weitere Auszahlmöglichkeiten werden verteilt.

Offenbar wird ein Großteil des Geldes verjubelt. Obstgeschäfte, Elektroläden und Spielwarenabteilungen der Kaufhäuser melden: ausverkauft! Die Kaufhalle am Rathausmarkt verbucht 100 Prozent mehr Umsatz als sonst an einem verkaufsoffenen Sonnabend. Horten zählt im Laufe des Wochenendes 300.000 Kunden. Sonst kommen 80.000. Hamburgs Wirtschaftssenator Wilhelm Rahlfs aus den Reihen der noch real existierenden und richtig starken FDP hebt die Ladenschlusszeiten auf. Auch am Sonntag darf geöffnet sein. Und an den Wochenenden danach möglichst auch. Die Gewerkschaften protestieren. Das kann nur verstehen, wer ein Wessi ist.

Auch ohne D-Mark in der Tasche kann materiell zugeschlagen werden. Überall sind Stände aufgebaut, die Kaffee, Kuchen oder belegte Rundstücke verteilen. Gratis. Zwischen zwölf und 15 Uhr geben Alsterpavillon und Ratsweinkeller gegen Vorlage der DDR-Ausweise unentgeltlich Eisbein, Würstchen und Sauerkraut aus. Andere akzeptieren zur Feier des Tages auch Ostmark. Sogar der Brillenhändler Fielmann verkauft Bananen für 2,30 Ostmark das Kilo. Ananasdosen und Milka kosten eine Ostmark. Um 10.30 Uhr sind je 2000 Konserven und Schokotafeln weg. Das kennen die Besucher nur zu gut.

Die Gäste von „drüben“ dürfen frei Bus und Bahn fahren, Museen verzichten auf Eintritt, Barkassen verkehren umsonst. Opel Dello und VW Grimm reparieren Trabis und Wartburgs zum Selbstkostenpreis. Das Abendblatt hat Tage zuvor augenzwinkernd einen wegweisenden Artikel veröffentlicht: „Der Trabi, das unbekannte Wesen“. Ausführliche Zeichnungen gehören dazu. Und noch eine Nachricht ist erstaunlich: Im Krankenhaus Wandsbek kommt um 4.53 Uhr das erste „DDR-Baby“ in Hamburg zur Welt. Herzlich willkommen, Alexander.

Vor dem Rathaus bietet ein Zelt für 3000 Besucher – natürlich kostenlos – Unterhaltung made in Hamburg: Udo Lindenberg, Heidi Kabel, Hans Scheibner und Otto Waalkes. Ein Bürgertelefon vermittelt Gratis-Übernachtungen bei Hamburger Familien. Händler auf dem Fischmarkt machen das Geschäft ihres Lebens. Südfrüchte, exotische Pflanzen und Jeans aus Fernost werden ihnen praktisch aus den Händen gerissen.

Und Nicole aus dem Kreis Hagenow? Sie wahrt ihre Würde, bleibt auf dem Boden, ist glücklich und trotz des Remmidemmis bescheiden. Genüsslich isst sie ihr Labskaus am Michel, bedächtig genießt sie den Kaffee in der Spitalerstraße. Vor allem besteht sie darauf, selbst zu bezahlen. Da ist nichts zu machen.

Der Sonderzug nach Ludwigslust verlässt den Hauptbahnhof erst gegen 21 Uhr, mehr als eine Stunde später als geplant. Diese Verzögerung ist ein Geschenk. Auf den Bahnsteigen ist der Teufel los, im guten Sinne. „So ein Tag, so wunderschön wie heute!“, stimmt einer an. Fast alle singen mit. Unbeschreiblich. Gänsehaut. Die Mauer ist platt. Man kann’s nicht glauben. Echt nicht.

„Ein komisches Gefühl“, sagt sie zum Abschied, „aber ein sehr, sehr schönes.“ Ihre Frage: „Wie wohl alles werden wird?“ Meine Antwort: „Bestimmt gut. Irgendwie. Irgendwann.“ Ihre Bitte: „Besuch uns zu Hause – und bring deine Freundin mit.“ Meine Antwort: „Hanseatisches Ehrenwort.“ So geschieht es dann auch. Nicht nur einmal.