Teil 9: Die Grenze ist offen, der Autor, elf Jahre alt, radelt in den Westen. Mit 100 D-Mark Begrüßungsgeld landet er in einem Supermarkt. Eine wunderbare Geschichte über einen Seitenwechsel.

Da stand ich nun mit meinem Begrüßungsgeld, gestrandet in der Obst- und Gemüseabteilung eines Supermarktes im Wendland. Ein Kind der DDR, elf Jahre alt, 100 D-Mark in der Hand, und schon vom diffusen Gefühl geplagt, gerade gründlich zu versagen.

Aber kauf mal ein im Westen, wenn dir deine Pionierorganisation zwar allerhand Gelöbnisse über Frieden, Freundschaft und Reinlichkeit (Gebot 9: „Wir Jungpioniere treiben Sport und halten unseren Körper sauber und gesund.“) mit auf den Weg gegeben hat, die Antwort auf nachhaltigen Konsum im Kapitalismus aber schuldig geblieben ist. Kein Wunder, dass mich die Marktwirtschaft zunächst scheitern ließ. Im Angesicht der veränderten Rahmenbedingungen war ich jedenfalls nicht nur überglücklich, sondern auch überfordert. Total überfordert.

Es war Sonnabend, der 11. November 1989. Während sie in Berlin schon auf der Mauer am Brandenburger Tor tanzten und DDR-Innenminister Friedrich Dickel noch an die „lieben Bürgerinnen und Bürger“ appellierte, „keine übereilten Entschlüsse zu treffen“, stand ich im Landkreis Lüchow-Dannenberg und wusste nicht, welche Südfrucht am besten zu mir passt. Michail Gorbatschow erklärte die Wende damit, dass die Politik der Situation angepasst werden musste. Ich musste meine Situation dringend mal dem Supermarkt anpassen. Es war verrückt.

Schon in der ersten Stunde fiel die Schule aus

Dabei hatte der Tag vielversprechend begonnen. Schon in der ersten Stunde fiel die Schule aus, weil nur noch die Hälfte meiner Klasse den damals üblichen Sonnabendunterricht als Pflichtveranstaltung begriff. Auch das sonst linientreue Lehrpersonal war ausgedünnt, anscheinend wollten sich einige persönlich von der neu gewonnenen Reisefreiheit überzeugen. Dass ich tags zuvor einen Zettel mit den Sätzen „Komme später. Essen steht im Kühlschrank. Hab dich lieb, Mami“ (sie war kurz rüber) auf dem Küchentisch fand, war für mich noch kein Grund zur Beunruhigung. Doch nun verstand auch ich.

Ein ostdeutscher Bauer sollte später sagen, dass man ja mit den Gedanken und Gefühlen gar nicht mehr nachgekommen sei. Knapp 36 Stunden nach dem Dammbruch in Berlin konnte ich das bestätigen, als ich mein metallicgrünes Diamant-Jugendfahrrad aus dem Schuppen schob, um mit meiner inzwischen wieder aufgetauchten Mutter und einer befreundeten Familie zum Grenzübergang der B71 nahe Bergen zu fahren. Zehn Kilometer. Mit dem Rad ein Katzensprung. Und doch eine Weltreise.

Ich erinnere nicht mehr viel aus dieser Zeit, aber diesen Tag kann ich vorwärts und rückwärts abspulen. Über mir lag der ungetrübte Herbsthimmel. Unter mir der löchrige Asphalt der Mangelwirtschaft. Und vor mir der wohl aufregendste Tag meines ganzen elfjährigen Lebens. Die „erhöhte Gefechtsbereitschaft“ der NVA war da bereits aufgehoben, die Gefahr eines militärischen Eingreifens vorüber.

Meine erste Fahrt in die niedersächsische Pampa erklärt sich dadurch, dass ich in der kleinen Grenzstadt Salzwedel groß geworden bin, früher Bezirk Magdeburg, heute Sachsen-Anhalt. Unser Bahnhof war Endhaltestelle, es gab nur eine größere Straße. Allerschönste Einöde. Im Grunde war alles sehr weit weg, nur die Grenze nicht. Meine Kindheit im Randgebiet war deshalb geprägt von absolut toter Hose.

Einziger Vorteil: Die Westprogramme konnten bei uns zu Hause einwandfrei empfangen werden. Kleiner Nachteil: Wollte man ungebetenen Besuch vermeiden, durfte man auf dem Schulhof nicht erwähnen, dass die Westprogramme zu Hause einwandfrei empfangen werden konnten.

Es 20 Kilometer langer, motorisierter Ostblock

Doch im November 89 war plötzlich alles anders. Auf einmal brummte die Stadt. Vor meiner Schule staute sich binnen kurzer Zeit ein bis zu 20 Kilometer langer, motorisierter Ostblock. Das wiederum stand in nicht unerheblichem Kontrast zur zuvor von mir erlebten Normalität. Denn jahrelang war die Straße gen Westen so überflüssig wie eine Krampfader. Hätte der Wind nicht hin und wieder vertrocknetes Buschwerk über den Asphalt getrieben, wäre sie ohne Verkehrsaufkommen gewesen.

Aber jetzt wollte die halbe Republik rüber, und zwar sofort, unverzüglich, wie Günter Schabowski zwei Tage zuvor ins Mikrofon gestammelt hatte. Mit dem Rad glitten wir an einer übel riechenden Karawane osteuropäischer Fahrzeugbaukunst vorbei. Lada, Dacia, Skoda, Trabant, Wartburg – alle waren sie da, alle waren euphorisch. Wer konnte schon ahnen, dass damit der dauerhafte Exodus des Ostens begann? Noch im November siedelten mehr als 130.000 Ostdeutsche über, auch in meiner Klasse blieben fortan einige Plätze leer. Bis heute haben 1,5 Millionen zumeist junge Menschen den Osten verlassen, abgesehen von Potsdam, Leipzig oder Dresden ist die Bleibegesellschaft in weiten Teilen der nun auch nicht mehr so neuen Bundesländer männlich, überaltert und untersiedelt.

Mir machte die Grenzübergangsstelle Angst

Als wir im Herbst 89 die GüSt genannte Grenzübergangsstelle Bergen erreichten, hatte ich aus anderen Gründen ziemliches Muffensausen. Uns Zonenrandkindern musste ja niemand mehr erklären, dass wir die hässliche Fratze des Systems zum Nachbarn hatten. Der Vater eines Freundes hatte uns oft genug von seinem gescheiterten Fluchtversuch und dem angeschossenen Komplizen erzählt; bekanntlich sind insgesamt mehr als 1000 Menschen an der innerdeutschen Grenze gestorben.

Doch auch ohne dieses Wissen machte mir die GüSt Angst. Hinter einer leichten Anhöhe weitete sich die Straße unter einem großen, kantigen Dach, es gab eine massive Panzersperre, einen Wachturm und schwer bewaffnetes Personal. Für den Fall unseres Scheiterns befürchtete ich die Trennung von der Familie und mindestens mehrjährige Isolationshaft. Am Ende drückte mir der Grenzer wortlos einen Stempel in den Kinderausweis. Ich konnte passieren.

Unsere in den späten 70er-Jahren geborene Generation ist zu jung, um ideologisch geprägt und durchdrungen worden zu sein. Repressalien, Willkür und Bevormundung haben wir nicht oder nur in sanfter Vorstufe selbst erlebt. Einmal gab es beispielsweise Ärger, weil ich bei meiner Einschulung mit Popeye-T-Shirt erschienen bin. Ein Spinat essender Seemann als subtile Form der Systemkritik konnte aber auch nur einem Staat wie der DDR einfallen, weshalb meine Mutter das Normen verdeutlichende Gespräch mit dem Schulleiter gelassen sah. Unterm Strich endete meine sozialistische Karriere noch, bevor sie begonnen hatte, im ideologischen Embryonalstadium.

Vom Kind zum orientierungslosen Konsumenten

Andererseits war ich beim Mauerfall zu alt, um mich nicht an leere Kaufhallen, kollektive Altpapiersammlungen und stramme Fahnenappelle zu erinnern. An Wandzeitungen, die periodisch von Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Ernst „Teddy“ Thälmann erzählten. An die Orte meiner Kindheit, die es nicht mehr gibt, verschwunden mit einem Land, das von „blühenden Landschaften“ ersetzt werden sollte. 1,2 Billionen Euro sind wohl inzwischen in den Osten geflossen. Mein Gymnasium musste mangels Schülerzahlen trotzdem schließen.

Probleme, die vor 25 Jahren auf dem ersten, akkurat asphaltierten Westfahrradweg meines Lebens (Lob an das Land Niedersachsen) noch nicht absehbar waren. Ungefähr 500 Meter hinter der Grenze fasste ich meine ersten Eindrücke in Sätzen wie „Die Wiesen hier sehen viel grüner aus“ zusammen. Zuvor bestand unsere Welt ja gefühlt nur aus Beige, Braun und sehr vielen Grautönen. Es waren Reflexionen eines Elfjährigen.

100 D-Mark reichten nicht für alle Wünsche

Kurz danach hielt ich auf dem Campingplatz Bergen/Dumme einen Sahnejoghurt und 100 D-Mark Begrüßungsgeld in Händen. Unerklärlicherweise durfte ich damit machen, was ich wollte. Vorgesehen war ein Besuch im Supermarkt in der kleinen Ortschaft Clenze. Was mich dort erwartete, war dann irgendwie zu viel: Vor allem zu viele Preise, die auf Komma99 endeten. Binnen Sekunden wurde aus einem halbwegs normalen Kind ein orientierungsloser Konsument, der aus der real existierenden Ödnis ostdeutscher Kaufhallen in überbordende Wahlmöglichkeiten geschubst wurde.

Schnell begriff ich, dass 100 D-Mark nicht für alle Wünsche reichen würden, weshalb ich am liebsten gar nichts gekauft hätte. Doch kneifen konnte ich jetzt auch nicht. Also ließ ich die Überraschungseier links liegen, ignorierte tapfer die kleine Spielzeugabteilung und griff zu etwas, das ich niemals zuvor (und nie wieder danach) gekauft habe: eine ganze Ananas.

Nennt mich Zonen-Gaby! Heftet mir Klischees an! Ich bin euer Mann. Ich hätte mir vielleicht keine Gurke als Banane andrehen lassen, aber es ging in die Richtung.

Der Westen wird kein Spaziergang werden

Es muss ein bizarres Bild gewesen sein, als ich das am Lenker hängende Bromeliengewächs in einer flatternden Plastiktüte als einziges Mitbringsel meines ersten Westbesuchs nach Hause gefahren habe. Nur um in der heimischen Küche vor der Frage zu stehen: Was nun? Zunächst malträtierte ich das Obst mit kleinen Stichwerkzeugen, dann sichelte ich mit mehreren Messern die Schale vom Fruchtfleisch und gelangte schließlich an kleine, schmackhafte Stückchen.

Es war ein hartes, aber lehrreiches Stück Arbeit für einen Heranwachsenden. Noch während des Schälprozesses wurde mir klar, dass der Westen kein Spaziergang werden würde. In den Folgejahren machte ich wie 17 Millionen andere Menschen viele Dinge zum ersten Mal. Leistungskurse belegen, Kriegsdienstverweigerungen schreiben, BAföG beantragen, Beziehungen mit Westfrauen führen. Manches ging schief, was zur Folge hatte, dass ich viele Dinge ein zweites Mal machen musste.

Außerdem musste ich mich für die unentschuldbaren Übergriffe in Rostock-Lichtenhagen oder Hoyerswerda schämen. Und ich musste lange warten, bis der weggebröselte gesellschaftliche Kitt des Ostens einigermaßen demokratisch verfugt werden konnte. Denn jahrzehntelanger Mangel hatte sich in der Nachwendezeit vielerorts in ein merkwürdiges Gemisch aus zu viel umgekehrt. Zu bunt, zu naiv, zu politisch extrem, die gewonnene Freiheit wurde nicht nur dosiert probiert, sondern auch in vollen Zügen missbraucht.

Meine erste Ananas war da nur ein Vorgeschmack

In ihrem Buch „Zonenkinder“ hat Jana Hensel, Jahrgang 1976, ihre Generation als die ersten Westdeutschen aus Ostdeutschland beschrieben. Eine noch formbare Masse, die das neue System aufsaugen und seine Codes kopieren konnte, die im Grunde nicht mehr von Gleichaltrigen aus dem Westen zu unterscheiden ist. Oder unterschieden werden wollte. Ein Kollege prägte später den Begriff Minimalmigrationshintergrund, der mir nach elf Jahren Sozialismus, fast 25 Jahren Kapitalismus, zwei Kindern aus gesamtdeutscher Produktion und einem Leben, das ich nicht eintauschen möchte, sehr gut gefällt. Denn wenn die DDR die Ostsee war, ist alles, was danach kam, der Ozean. Und ich bin wirklich froh, dass ich ihn kennenlernen durfte. Meine erste Ananas war da nur ein Vorgeschmack.