Berlin fürchtet, dass Druck auf Cameron weiter zunimmt. Streit über Einwanderungspolitik

London/Brüssel. Immer, wenn die Paarung Deutschland gegen Großbritannien lautet, fangen die Drähte der öffentlichen Erregbarkeit auf der Insel an, zu glühen. Nun ist es wieder einmal soweit: Anlass ist ein Bericht des „Spiegel“, der schlicht konstatierte, was seit Wochen im Umfeld der Kanzlerin zu hören ist: Angela Merkel ist ernsthaft besorgt, dass Großbritannien die EU verlassen könnte. Kernpunkt des Duells diesmal: Britanniens Premier David Cameron will offenbar für EU-Arbeitnehmer Quoten einführen, um die Zuwanderung zu begrenzen. Das allerdings ist für Berlin unverhandelbar, weil es die Personenfreizügigkeit der EU einschränken würde. Käme es soweit, wäre aus Sicht der Bundesregierung „ein point of no return“ erreicht – Großbritannien also unwiderruflich auf dem Weg aus der Union.

Die Berichterstattung wird von vielen Briten aber so gelesen, als ob Angela Merkel David Cameron vorgeschrieben habe, was in der EU für Großbritannien geht, und was nicht. Im Hintergrund lauern allerlei historische Gespenster, während London darum ringt, die Popularität Großbritanniens als Einwanderungsland zu reduzieren. Gemessen fiel die Reaktion von Finanzminister George Osborne aus. Im Frühstücksfernsehen der BBC tat er am Montag die Geschichte aus Deutschland als „Spekulation“ über die Art und Weise ab, wie Berlin künftig auf Änderungen der britischen Politik reagieren werde. Es sei im britischen nationalen Interesse, die Unruhe in der Bevölkerung über ungebremste Einwanderung aus der EU ernst zu nehmen. Dennoch würden Verhandlungen mit der EU von London „ruhig und rational“ geführt. Das scheint auch die Haltung der Bundesregierung zu sein, die im Streit über die Einwanderungspolitik Kompromissmöglichkeiten sieht. „Großbritannien muss sich darüber klar werden, welche Rolle es in der Europäischen Union künftig spielen will“, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. „Das hohe Gut der Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union ist für Deutschland nicht verhandelbar“, betonte er, fügte aber hinzu, dass es „ein starkes Interesse an einer gemeinsamen Arbeit daran gibt, mögliche Probleme bei der Ausnutzung der Freizügigkeit gemeinsam anzugehen“. Dies steht auch in London im Zentrum der Überlegungen.

Tatsächlich fürchtet man in Berlin die Rückkehr der europäischen Krise. Grund dafür ist nach interner Einschätzung weniger die Lage beim Sorgenkind Griechenland oder die schleppenden Reformfortschritte in Italien und Frankreich. Berlins größte Sorge gilt den Briten. „Wir fürchten, dass Premier David Cameron, getrieben vom Druck der EU-Gegner in der eigenen Partei und von Ukip, sein Land an einen Punkt bringt, an dem es zu einem EU-Austritt keine Alternative mehr gibt“, sagte ein ranghohes Regierungsmitglied.

Mit einem Austritt Großbritanniens aus der EU verlöre Deutschland zum einen einen seiner wichtigsten Partner in Reformfragen. Zum anderen würde die Debatte über die innere Stabilität des Bündnisses von Neuem beginnen – und womöglich in viel größerem Ausmaß. Obwohl Großbritannien nicht Teil der Währungsunion ist, würde der EU-Austritt des Landes, so die Befürchtungen, an den Börsen Tür und Tor für Spekulationen über weitere Austrittskandidaten auch aus der Währungsunion öffnen – eine Situation, die sich kaum noch kontrollieren ließe.

Die Position der Kanzlerin in der Frage der Bewegungsfreiheit als einer der vier unantastbaren Säulen des europäischen Vertragswerks ist für britische Ohren im Grunde nichts Neues. Genau im gleichen Ton hatten seit mehreren Wochen mehrere gewichtige Stimmen argumentiert, die London daran erinnerten, dass es hier keinen Manövrierraum gibt. Kurz vor Ende seiner Zeit als Chef der EU-Kommission hatte Manuel Barroso in mehreren Auftritten an der Themse Ende Oktober sinngemäß ins gleiche Horn gestoßen: Wenn ihr Briten an diesem Grundsatz rütteln wollt, gibt es für euch nur einen Ausweg – dann müsst ihr die EU verlassen.

Der konservative Abgeordnete David Davis, der vor neun Jahren gegen Cameron um die Führung der Tories angetreten war, riet nun dazu, den Pegel der Erregung zu senken. Frau Merkel sei eine wichtige Figur in Europa, sagte er in einem Radiointerview der BBC, aber sie sei „keine Eiserne Lady“ und werde ihrerseits in Deutschland unter Druck geraten, etwas gegen binnen-europäische Wanderungsbewegungen aus Ländern mit niedrigerem Einkommensniveau zu unternehmen.

In Brüssel reagiert man bisher gelassen auf die Debatte. „Der britische Premierminister hat bisher eine mögliche Quotierung oder sonstige Beschränkungen weder beim letzten EU-Gipfel Ende Oktober noch sonstwo in den EU-Institutionen zum Thema gemacht“, hieß es. Es gibt auch Zweifel daran, dass Cameron mit seinen Drohungen am Ende wirklich ernst macht.